Die Angst schlägt erstmals mit aller Härte zu, als sich tausende Tonnen Gestein zwischen mir und der Außenwelt befinden: Sie drückt auf meinen Brustkorb, nimmt mir die Luft zum Atmen. Sie lässt meine Hände zittern und mein Herz rasen. "Du musst raus aus diesem Grab!", brüllt eine Stimme in mir. Ich atme tief ein, und wieder aus. Dann ergebe ich mich meiner Angst: "Ich muss raus aus dieser Höhle", sage ich zu Lothar.
Eine halbe Stunde zuvor: Lothar Dietrich, 60 Jahre alt, ein Mann mit drahtiger Figur, ideal für einen Hobby-Höhlenforscher, kramt im Kofferraum seines Transporters. Er zieht einen Helm hervor, der an der Stirnseite eine kleine LED-Lampe trägt: elf Watt, die mir den Weg in der Dunkelheit leuchten sollen.
Die Konfrontation mit der Angst
Lothar, man duzt sich unter Tage, begleitet mich bei meinem Selbstversuch: Ich will in die Blätterteighöhle hinabsteigen, deren Gänge sich in einem Rund auf eine Länge von 200 Metern erstrecken. Dort unten will ich mich meiner Angst stellen. Der Angst vor der Enge, dem Eingesperrtsein, dem Tod. Ein Armband am linken Handgelenk soll dabei im Sekundentakt meinen Herzschlag erfassen – und meine Angst so messbar machen.

„Früher warst du immer der Erste in Höhlen“, entgegnete mir mein Vater überrascht, als ich ihm kürzlich am Telefon von meinem Vorhaben erzählte. Woher also stammt diese Angst, die bereits bei dem Gedanken an feuchte Felskammern in mir aufsteigt? Bemüht um eine Antwort hatte ich mich bis heute nicht. Aus Furcht vor der Angst selbst.
„Pass auf deinen Kopf auf. Dort unten wirst du nicht oft stehen können“, klärt Lothar mich auf, als ich meinen Helm festzurre. „Wir werden viel auf allen vieren oder auf dem Bauch kriechen.“ Stille. Ich atme tief ein. Abbruch? Schon jetzt? Dafür bin ich nicht hergekommen, murmle ich in mich hinein. Ein Blick auf das Armband. Der Puls steigt: 87 Schläge in der Minute.
Der Abstieg in die Höhle
Wie ein Grabstein liegt er vor mir, der Höhleneingang: ein quadratischer Betonschacht, der 20 Zentimeter aus dem Boden ragt, verschlossen durch ein graues Riffelblech. Als Lothar die Abdeckung entfernt, entweicht erdiger Geruch. Rund drei Meter blicke ich nun in die Tiefe, vorbei an Kabelgewirr, Eisenketten und Stützbalken. „Los geht’s!“, ruft Lothar und steigt zuerst die Leiter hinab. Mein Körper folgt ihm, mein Geist sträubt sich.
Unter Tage ist die Luft klamm und kalt. Bereits nach wenigen Schritten schluckt die Dunkelheit das letzte Licht. Nur der Schein der Stirnlampen leuchtet uns jetzt noch den Weg durch die Finsternis. Der Gang aus lehmbraunem Karst schnürt sich nach und nach zu, bis er schließlich in ein schmales Loch mündet. Wir halten und Lothar beginnt zu erzählen. Was er sagt, nehme ich nicht mehr wahr. Denn in Gedanken bin ich bereits tief drin in der Höhle – und male mir die verschiedenen Schreckensszenarien aus: Felssturz, kein Ausweg, Ohnmacht – Tod. Mein Blick streift gedankenverloren das Armband am Handgelenk. Mein Herzschlag wird schneller: 101 Schläge.
„Weiter geht’s!“, holt Lothar mich zurück in die Gegenwart. Er sinkt auf die Knie, dann auf die Hände und verschwindet in dem Engpass. Ich höre auf zu denken – und krieche hinterher. Unter mir weicher Lehmboden, über mir hartes Felsgestein, rundherum alles durchdringende Feuchtigkeit. „Hier kannst du stehen“, schallt es von vorne. Und tatsächlich: Nach zahlreichen Zügen, etwa 30 Metern, öffnet sich der Engpass und erwächst zu einer Kammer. Ich richte mich auf.
Die erste Panikattacke
Als mein Kopf wieder seine Arbeit aufnimmt, realisiere ich: Tausende Tonnen Gestein liegen nun zwischen mir und der Außenwelt. Würde ich den Ausweg durch das Loch zurück noch einmal bewältigen können, oder diesmal in Panik verfallen? Das Bewusstsein verlieren? Und dann gar sterben? Mit diesen Gedanken kehrt nun auch die Angst wieder. Mein Herz rast – 126 Schläge. Mit trockenem Mund spreche ich das erste Mal aus, was ich denke, seit ich die Höhle betreten habe: „Ich muss raus!“
„Wir können jederzeit zurück“, beruhigt Lothar mich. „Aber setz dich erst einmal hin.“ Ich nehme Platz auf einem Felsvorsprung – und atme wieder tief durch. Lothar, der nun vor mir auf dem Lehmboden hockt, nimmt seinen Helm vom Kopf. „Hier kann nichts passieren“, sagt er. Und Lothar muss es wissen: „Für mich ist die Höhle wie mein zweites Wohnzimmer“, sagt er. Ich denke an mein eigenes Wohnzimmer, mein Herzschlag beruhigt sich.

Die Zeit verfliegt nun. Ich erfahre, dass vermutlich ein unterirdischer Gletscherbach die Gumpen in den Fels gespült hat, in denen wir uns gerade befinden; dass der Eingang zur Höhle vor 14 Jahren per Zufall bei Grabungen entdeckt wurde; dass Lothar die Gänge seither gemeinsam mit Gleichgesinnten Eimer für Eimer freischaufelt – in seiner Freizeit. „Das ist die Raumfahrt des kleinen Mannes“, sagt er grinsend. Pionierarbeit also, denke ich mir. Eine Vorstellung, die mir gefällt und meine Angst verdrängt.
Mit dem Zeigefinger zeichnet Lothar die freigelegten Gänge in den Lehm. Ein Kreis, halbrund, mit wenigen Fortsätzen nach außen hin. „Hier und hier sind richtige Engstellen, die wir passieren müssten, um die gesamte Strecke zu bewältigen“, erklärt Lothar und markiert die beiden Punkte in seiner Skizze. „Die Erste von ihnen liegt gleich dort hinten.“ Er deutet an das Ende der Kammer, wo ein schwarzes Loch in die Tiefe führt. „Das schaffe ich nicht mehr“, resigniere ich. „In Ordnung“, erwidert Lothar. Wir treten den Rückzug an.
Das letzte Aufbäumen
In dem Wissen, schon bald den lehmigen Geschmack auf der Zunge loszuwerden, blicke ich auf mein Armband: 76 Schläge pro Minute. „Soll es das wirklich gewesen sein?“, keimt in mir die Frage auf, als ich auf allen vieren dem Ausgang entgegen krieche. „Nein!“, beschließe ich in einem kurzen Anflug von Euphorie. „Lass uns die zweite Engstelle versuchen“, rufe ich Lothar zu. „Wie du willst!“, schallt es zurück. Schon bald bereue ich meine Worte.

Vor meinen Füßen liegt sie nun, die zweite Engstelle: Massive Holzbretter, bedeckt mit schmierigem Lehm, führen hinab in eine Senke, die mit gut zwei Handbreit Wasser gefüllt ist. Zusätzlich verengt ein Felskeil, der von der Decke herabhängt, den bereits schmalen Gang. „Wir müssen zuerst das Wasser abpumpen“, erklärt Lothar. Ich nicke nur. Zehn Minuten verstreichen. Zehn Minuten, in denen sich die Angst wieder breit macht in mir. In denen sich die Vorstellung verfestigt, mit meiner Entscheidung die Chance verpasst zu haben, lebendig aus der Höhle zu gelangen.
Die zweite Panikattacke
„Auf geht’s!“, sagt Lothar. „Das Wasser ist weg.“ Und er ist es auch gleich. Auf dem Bauch schlittert Lothar die schmierigen Bretter hinab, wuchtet sich unter dem Felskeil hindurch und ist verschwunden. Was bleibt, ist seine Stimme. „Komm, auf meiner Seite kannst du bald wieder stehen.“ Sekunden verstreichen. Dann rutsche ich hinterher, zwänge mich auf die andere Seite – wo mein Herz erneut zu toben beginnt: Weiterhin Enge, wieder eine Barriere zwischen mir und dem Ausgang.

„Ich drehe um“, rufe ich Lothar in Panik zu. Hektisch schiebe ich mich zurück durch den Engpass, ziehe mich Zug um Zug am rutschigen Holzbrett empor. Ein Blick auf das Armband: Schweiß und Lehm haben es außer Gefecht gesetzt. Doch ich spüre, wie mein Herz poltert. Die letzten Meter. Das letzte Mal auf allen vieren. Dann erscheint Sonnenlicht. Und mit ihm der Ausgang. Endlich.
Der Aufstieg aus der Höhle
„Meine Auferstehung!“, denke ich mir, als ich dem Höhlenloch entkomme und Stufe um Stufe den Betonschacht emporklettere; als ich den Himmel wieder erblicke, den Wind wieder auf meiner Haut spüre, sich meine Lunge wieder mit frischer Luft füllt. Der Druck auf der Brust schwindet. Der Herzschlag beruhigt sich. Die Blätterteighöhle – mein Grab, wie ich fürchtete – sie liegt wieder unter meinen Füßen. Die Angst vor ihr aber ist nicht dort geblieben.

Nachdem ich die Höhle verlassen habe, stellt sich in mir ein seltsames Gefühlsgemisch ein: aus Freude und Stolz einerseits, aus Ärger und Enttäuschung andererseits. Denn meine Angst habe ich nicht besiegt. Aber ich habe ihr wenigstens einen ordentlichen Schrecken eingejagt.
Drei Fragen an Lothar Dietrich, Vorsitzender der Freunde der Aachhöhle
Lothar Dietrich ist Vorsitzender des Vereins Freunde der Aachhöhle. Seit 2004 legte er gemeinsam mit rund 20 aktiven Gleichgesinnten die Gänge der Blätterteighöhle frei – und verbrachte so schon Tage und Wochen unter der Erde.
- Herr Dietrich, warum sind sie offenkundig frei von Angst, wenn Sie sich in engen Höhlen befinden?
Ich glaube, das ist angeboren. Entweder man hat beklemmende Ängste, oder man hat sie eben nicht. Und ich hab sie ziemlich sicher nicht. Mir macht es überhaupt nichts aus, wenn ich mich in sehr engen Räumen befinde. Beim gemeinsamen Eimerbefördern oder Graben ist man ja nicht allein. Außerdem kommen wir bei unseren Arbeiten in der Blätterteighöhle gar nicht groß zum Nachdenken. Wenn wir das Ziel haben, 100 Eimer Schutt und Lehm an diesem einem Tag aus der Höhle zu schaffen, dann hat man eben nur das im Sinn. Ängste haben da überhaupt keine Chance (lacht).
- Was ist der Grund, dass es Sie immer wieder unter Tage zieht?
Es ist der Reiz des Unbekannten. Der Drang, herauszufinden, wie es weiter geht. Wir wissen bei unseren Grabungen nie, wohin wir geraten. Ist es eine Sackgasse, oder doch der große Traum eines jeden Hobby-Höhlenforsches: eine große Halle und luftgefüllte Gänge? Wir graben quasi dieser einen Idee nach und suchen den Ursprung des Wassers, das die Höhle ausgespült hat.
- Ist Ihnen unter der Erde schon einmal etwas passiert? Wurden Sie eingeklemmt oder haben sie sich verletzt?
Nein. Uns allen ist, Gott sei Dank, noch nie etwas Ernsthaftes passiert. Einstürzen kann die Höhlendecke nicht, denn sie ist unserer Meinung nach stabil. Natürlich besteht die Gefahr, dass man sich bei den Arbeiten mit dem Werkzeug verletzt oder sich das Bein bricht. Ist man alleine in der Höhle, macht man deshalb mit anderen Vereinsmitgliedern eine Alarmzeit aus – bis wann man quasi plant, die Höhle wieder zu verlassen. Auf diese Weise weiß immer jemand Bescheid, wenn man in der Höhle arbeitet.