Herr Sofsky, wie wird die Coronakrise unsere Gesellschaft verändern?

Wie sie sich mittel- und langfristig verändert, weiß ich nicht. Zunächst muss man verstehen, was sich im Moment verändert. Die Maßnahmen der Obrigkeit wie Ausgangs- oder Kontaktsperre führen zu so etwas wie sozialer Entleerung. Betriebe werden geschlossen, öffentliche Räume gesperrt, die Leute nach Hause geschickt, Institutionen machen dicht, Kultureinrichtungen schließen. Dort wo vorher Menschen aufeinander trafen, herrscht nun Leere.

Die zweite Maßnahme ist die Errichtung von Grenzen, zwischen Nationen, Regionen, Individuen. Solche Grenzen sind wir gar nicht gewöhnt. Wir fantasierten von der großen Einheit Europas, nun wird an den nationalen Grenzen kontrolliert und gesperrt, was ja vernünftig ist. Wir sind gewöhnt, arglos durch die Straßen zu laufen. Um die Einhaltung von Distanzen bemühen sich die Menschen auch sonst. Wir wollen einander nicht auf die Füße treten oder anrempeln. Aber jetzt muß man bewußt kalkulieren; zwei Meter Abstand ist man nicht gewöhnt. Beides erzeugt eine Leere und neue Grenzen im Sozialen. Und mit der Geselligkeit ist es zumindest physisch erst mal vorbei, wenn man nicht länger als 10 Minuten von Face to Face miteinander reden soll.

Was bedeutet die Krise für die Politik?

Krisenzeiten sind immer Zeiten der Exekutive. Die Parlamente haben Pause, die Justiz hat Pause, es zählt die Verwaltung, die Ordnungskraft. Derjenige, der etwas tut, gewinnt an Ansehen. Das ist der Vorteil von Österreichs Bundeszkanzler Sebastian Kurz oder dem bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder, die verbreiten einen Eindruck von Tatkraft.

Andere reagieren lascher. US-Präsident Donald Trump schwankt hin und her. Die meisten Machthaber kommen zu spät. Es wird verleugnet, bagatellisiert. Das liegt am Legitimitätsdruck der Obrigkeit. Der Schutz vor dem Tod ist die allererste Staatsaufgabe. Wenn aber in der Gesellschaft Unsicherheit grassiert oder in Massen gestorben wird, dann verliert der Staat seine Basislegitimität. Aus diesem Grund haben viele Amtsinhaber die Krise zunächst verharmlost. Der britische Premier Boris Johnson ist da nicht der einzige, viele haben es regelrecht verbummelt, Maßnahmen zu ergreifen. Alle kommen sie zu spät.

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Trotzdem wünschen sich die Menschen eine Rückkehr zur Normalität. Wird es diese Normalität so wieder geben?

Das hängt davon ab, wie lange die Krise anhält. Wir sind noch nicht über den Berg, obwohl bereits die Hoffnung verbreitet wird, wir seien bald am Zenit angekommen und könnten die Maßnahmen langsam wieder abbauen. Das könnte eine große Illusion sein.

Die Anpassungsfähigkeit des Menschen sollte man nicht unterschätzen: Sie passen sich an alles an, auch an drakonische Maßnahmen, auch an die elendsten Bedingungen. Doch die alten Gewohnheiten hängen nach. Daher haben wir nun auch den Impuls: „Wir machen das jetzt mal und dann ist alles wie vorher.“ Gewohnheiten haben ein gewisses Übergewicht, eine Art Schwerkraft. Die Pause darf nicht zu lange dauern. Gewohnheiten zu ändern oder zu durchbrechen, geht nur in Not oder mit Zwang. Das wäre der Fall, wenn mit verschärftem Machteinsatz neue Maßnahmen längerfristig durchgesetzt werden müssten. Davon sind wir aber noch meilenweit weg.

Welche Auswirkungen haben die strikten Maßnahmen auf die Menschen, wenn sie länger andauern?

Der kritische Punkt ist, dass man, so heißt es, 14 Tage abwarten muss, ob die Maßnahmen wirken. Wenn sie nicht greifen, müssen sie verschärft werden. Wirken auch verschärfte Maßnahmen wie totale Ausgangssperre, Einstellung der Produktion etc. nicht, dann bricht die Verzweiflung aus: Man weiß dann nicht mehr, was man machen soll. Die Situation würde sich radikal verschärfen. Wenn die Neuinfektionen jedoch zurückgehen, können die Maßnahmen allmählich gelockert werden.

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Und wenn nicht?

Wenn nicht, dann werden die Fundamente der Gesellschaft trotzdem nicht grundlegend gesprengt. Menschen sind im Stande, Pausen im Alltag zu machen. Das ist so ähnlich wie nach einer längeren Krankheit oder einem langen Urlaub, nach dem man ins Berufsleben zurückkehrt. Solche Pausen sind nicht so einschneidend, dass die Grundfesten der Gesellschaft verschoben werden. Es sei denn, es wird in Massen gestorben, große Firmen schließen, die wirtschaftliche Krise verschärft sich, eine Arbeitslosigkeit von 25 Prozent. Dann haben wir eine ganz andere Situation.

Wie sähe die aus?

Das Leben wird kürzer, armseliger, elender. Jeder sieht zu, wo er bleibt. Schwarzmarkt, Plünderung, manche bewaffnen sich wie jetzt schon in den USA oder Ungarn. Es wird Seuchengewinnler geben, Mittelschichten stürzen ab, es bilden sich Zweiergruppen und Notgemeinschaften, die sich gegen alle anderen durchschlagen, am Ende steht die Anomie, aber diese Seuchengesellschaft ist noch nicht aktuell.

In der Krise handeln die Menschen mitunter panisch, horten Toilettenpapier und haltbare Lebensmittel, während andere leer ausgehen. Droht die Gesellschaft egoistischer zu werden?

Bei den Hamsterkäufen kommt ein sozialer Mechanismus in Gang – die sich selbst erfüllende Prophezeiung. Es ist wie beim Bank Run. Es gibt das Gerücht, der Bank ginge das Geld aus. Alle gehen hin, um noch was abzuheben, das führt dazu, dass die Bank tatsächlich am Ende kein Geld mehr hat. Man erfährt, andere kaufen mir das Klopapier vor der Nase weg, also muss ich mich beeilen. So kauft jeder mehr als er braucht, dann ist es wirklich weg. Das andere ist die Auswirkung auf die Sozialmoral. Ich glaube nicht, dass wir egoistischer werden. Menschen sind das immer. Was sich vielleicht auflöst, ist die Illusion von Solidarität und Gemeinschaftlichkeit.

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Aber die gibt es doch – Nachbarschaftshilfen haben sich gegründet, junge Familien helfen älteren Menschen…

Natürlich können Menschen einander helfen, ja sich sogar für andere aufopfern, also sich altruistisch verhalten. Aber sie schauen zuerst, dass sie selbst über die Runden kommen. Solche Hilfsaktionen gibt es so lange, wie sich die Menschen die Hilfe leisten können und etwas dafür bekommen, und sei es nur eine Geste der Dankbarkeit oder ein gutes Gewissen. Wenn sie selbst um ihre Existenz kämpfen müssen, machen das nur noch wenige.

Viele sprechen von einer Einschränkung unserer Grundfreiheiten. Wie sehen Sie die Infektionsschutzmaßnahmen?

Freiheit heißt auch Freiheit vor Ansteckung durch andere. Die soziale Distanz, die uns in unserer Verletzbarkeit schützt, ist eine Maßnahme der Freiheit. Diese ist viel fundamentaler als alles, was wir gerade vermissen: dass wir mal ein paar Tage nicht unsere Freunde treffen können, unsere Großeltern besuchen, dass wir mal keine neuen Schuhe kaufen können… Freiheit hat zuallererst diesen Grund in der menschlichen Verletzbarkeit. Der Schutz vor der Schädigung durch andere ist viel elementarer als das, was wir zur Zeit als Freiheitsrechte vermissen.

Droht bei solchen Maßnahmen nicht die Gefahr eines dauerhaft starken Staats?

Das glaube ich nicht. Es gab in Krisenzeiten, auch in Demokratien, manchmal eine Deklaration des Ausnahmezustands, der aber auch immer befristet war. Das galt für Winston Churchill, für Franklin Roosevelt, beide haben völlig ohne Parlament regiert – aber befristet. Churchill wurde nach dem Krieg abgewählt. Dass wir keine Chance mehr haben, Frau Merkel abzuwählen, glaube ich jedenfalls nicht, es sei denn, die Wahlen würden ganz abgeschafft.

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Welches Ausmaß eines starken Staats können wir den erwarten?

Ein starker Staat ist einer, der alle Machtmittel einsetzt, die er hat. Das Militär, die Propaganda, die Ausschaltung von Judikative und Legislative, die Enteignung und Verstaatlichung des Eigentums. Was das Militär angeht, könnte es sein: Wenn eine radikale Ausgangssperre eingeführt wird, dann müssen die Straßen effektiv leer sein. Das kann die Polizei nicht leisten. Sollte das Militär zum Zuge kommen, wäre das verfassungsmäßig in Deutschland zumindest eine neue Situation. Aber solange die Bundeswehr nur dabei hilft, Schutzmasken zu liefern und Särge abzutransportieren, ist das alles noch harmlos.

Können die taumelnden Volksparteien durch die Krise wieder Zugewinne machen? Populistische Parteien verlieren ja gerade deutlich an Zuspruch…

Nur wenn sie die Krise erfolgreich managen. Wenn es gelingt, die Infektionen zu senken und die Zahl der Toten im Rahmen, sagen wir unter 10.000, zu halten. Wenn das nicht gelingt, und die Regierung den Eindruck von Hilflosigkeit hinterlässt, werden die Traditionsparteien wieder verlieren. Das ist eine Frage von Leistung, danach werden sie beurteilt. Oppositionsparteien verlieren derzeit, das gilt auch für die Grünen. Denn sie haben auf Bundesebene nichts zu sagen. In der Krise geht es darum, wer etwas zu sagen hat und ob er das Richtige tut.

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Könnte die Kanzlerin gestärkt aus dieser Krise hervorgehen? Wäre es denkbar, dass sie sogar erneut als Kandidatin aufgestellt wird, obwohl sie sich zurückziehen wollte aus der Politik?

Wenn sie sich ihren pastoralen Ton abgewöhnen würde… Ich finde nicht, dass sie einen energischen Eindruck hinterlässt. Ein möglicher Nachfolger wie Söder tritt ganz anders auf, nicht so wolkig, nicht so an Pseudowerte appellierend. Sondern: Wie ist die Lage, was sollte man machen, was kann man machen? Die Kontaktsperre zu erlassen, auf die sich Bund und Länder geeinigt haben, hat viel zu lange gedauert, sie kam mindestens eine Woche zu spät, und ist im Vergleich zu anderen Ländern halbherzig.

Aber 75 Prozent der Bundesbürger glauben, sie seien bei Merkel in guten Händen. Nun, wir Untertanen scharen uns eine Zeit lang um die gewohnte Autorität und möchten ihr innigst glauben. Wenn sie aber offenkundig versagt, verlagert sich diese Sehnsucht auf anderes Personal.

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Was bedeutet die Krise für Europa?

Wer sich als machtlos erwiesen hat, sind die EU und die UN. Die EU geht eher geschwächt aus der Krise hervor, es ist die Zeit der Nationalstaaten. Es zeigt sich vielleicht auch, dass der Nationalstaat immer noch am effektivsten ist, wichtige Entscheidungen zu treffen, wenn es darauf ankommt.

Von dem großen Weltstaat wie den Vereinten Nationen, von denen einige Maßnahmen erwarten, ist nichts zu sehen. Er hat kein Geld und keine Macht und kein Personal. Die UN sind für diese globale Krise mit lokalen Seuchenherden nicht gebaut.

Ist diese Analyse nicht ein wenig unfair? Die Mitgliedstaaten haben den EU-Institutionen doch von Anfang an Fußfesseln verpasst, indem Entscheidungen beispielsweise nur einstimmig getroffen werden können.

Das ist doch auch richtig so. Entscheidungen werden da getroffen, wo sie getroffen werden müssen. Es wäre absurd, von der EU-Kommission zu erwarten, dass sie eine europäische Maßnahmenpolitik ergreift. Der Vorschlag der Reisebeschränkung klappte spät hinterher, da hatten viele EU-Länder schon die Grenzen geschlossen.

Am effektivsten funktioniert manches Bundesland in Deutschland, ja sogar mancher Landkreis oder eine einzelne Stadt. Man braucht Maßnahmen je nach Lage vor Ort, und zwar präventiv und nicht reaktiv. Das erfordert Dezentralisierung.