Herr Grossmann, Sie sind Leiter des Jewish Chamber Orchestra Munich (JCOM) und eine exponierte Persönlichkeit jüdischer Kultur in Deutschland. Wann haben Sie beschlossen, sich für die Sichtbarkeit jüdischen Lebens einzusetzen?

Mit zwölf oder dreizehn Jahren fing ich an, mich für das Thema Judentum und Musik zu interessieren, besonders für verfolgte Komponistinnen und Komponisten und Musik, die vom Holocaust beeinflusst wurde.

Was hat diese Faszination für Sie ausgemacht?

Ich bin immer wieder auf Stücke gestoßen, bei denen ich mir dachte: Warum kennt die kein Mensch? So war es zum Beispiel bei Józef Koffler. Das ist ein Komponist, den praktisch niemand kennt – aber die Musik ist so besonders und so wertvoll, dass sich mir das überhaupt nicht erschließt. (Józef Koffler war ein polnisch-jüdischer Musiker, der 1944 von der Gestapo ermordet wurde, Anm. d. Red.). Und in dieser Position zu sein, unerforschte Dinge auszugraben, ist für mich besonders spannend.

Also hat Ihnen früher in der Musiklandschaft etwas gefehlt?

Ja, schon. Das ist mir aber erst bewusst geworden, als ich bereits als Dirigent gearbeitet habe und als Zuschauer bei einem Konzert des BR-Sinfonieorchesters war. Es wurden drei völlig zusammenhanglose Stücke gespielt. Ich fand das Programm damals so sinnlos – und in diesem Moment wurde mir klar, dass ein Konzert ohne innere Logik oder Erzählung einfach Blödsinn ist. Deswegen zieht sich der rote Faden, die Breite der jüdischen Kultur darzustellen, durch alle meine Konzerte.

Im JCOM sitzen Musiker verschiedener Religionen und Nationalitäten. Ist es also dieser rote Faden, der Ihr Orchester zu einem jüdischen Orchester macht?

Als allererstes ist für mich jüdisch immer der Inhalt und nicht die Form. Wer nur die Form sieht, landet schnell in Stereotypen, da sind wir im Ghetto oder im Schtetl. Das möchte ich nicht, auf keinen Fall. Für mich geht es rein um die Inhalte, etwa die Lebensgeschichten jüdischer Komponisten oder die Vielschichtigkeit jüdischer Kultur.

Am 20. Juni spielen Sie das Konzert „Mahler und die Mendelssohns“ in Villingen-Schwenningen. Sowohl Felix Mendelssohn als auch Gustav Mahler sind zum Christentum konvertiert, ihre jüdische Identität ist seit jeher umstritten. Die Autorin Deborah Feldman hat vor einigen Monaten eine sehr ähnliche Debatte losgetreten. Sie unterstellte prominenten Intellektuellen, aufgrund ihrer Konversion keine „echten Juden“ zu sein. Was halten Sie davon?

Ich verstehe ein bisschen, was sie meint. Es ist schwierig: Der Holocaust schwingt bei jeder Debatte mit, weshalb man schon das Gefühl hat, dass einige Menschen versuchen, aus der Täterrolle ihrer deutschen Vorfahren in eine jüdische Opferrolle zu schlüpfen. Damit habe auch ich meine Probleme. Es kann schon sein, dass einige ihrer Familienmitglieder dem Nationalsozialismus zum Opfer fielen, aber dann muss man auch thematisieren, dass es nicht die gesamte Familie war.

Sehen Sie Parallelen zu Mendelssohn und Mahler?

Früher war ich auch der Meinung: Was wollt ihr denn mit Mendelssohn? Schon seine Eltern sind konvertiert, er ist überhaupt nicht jüdisch aufgewachsen. Aber Mendelssohn ist eben dafür bekannt, dass er Bachs Matthäuspassion zum ersten Mal wieder aufgeführt hat – und in diesem Zusammenhang entdeckte ich ein Zitat von ihm: „Musste ein Judenjunge kommen, um den Christen die größte christliche Musik wiederzubringen?“ Das erstaunte mich – dass er auf sich selbst Bezug nimmt als ‚Judenjunge‘. Die Geschichte der Familie Mendelssohn ist unglaublich; sie erzählt so viel über den Antisemitismus in Deutschland.

Inwiefern?

Das ist eine Familie, die zum Zeitpunkt des Holocausts schon seit fünf Generationen christlicher als die Christen und deutscher als die Deutschen war – und trotzdem wurde ihre Bank enteignet. Gerade beschäftige ich mich zum Beispiel viel mit Eleonora und Francesco Mendelssohn, die nach der Machtergreifung aus Deutschland emigriert sind. Sie sagten sich: „Wie sollen wir uns als Juden hier deutsch fühlen?“

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Das ist eine Frage, die heute noch relevant ist. Jüdisch sein in Deutschland – was heißt das für Sie?

Das ist schwierig zu sagen. Ich verbinde damit eine bestimmte Kultur, die natürlich auch vom Holocaust geprägt ist. Ich bin überhaupt nicht religiös, ich würde mich sogar als Atheisten bezeichnen. Trotzdem fühle ich mich ausgesprochen jüdisch, genauso wie ich mich auch ausgesprochen deutsch fühle.

Hat sich Ihre Verbundenheit zum Judentum seit dem 7. Oktober verändert?

Meine Verbundenheit war davor schon sehr stark. Was sich tatsächlich verändert hat, ist mein persönliches Sicherheitsgefühl. Vor dem 7. Oktober dachte ich, dass ich sicher bin – und wenn ich in Deutschland nicht mehr sicher bin, dann gehe ich halt in ein anderes Land. Mittlerweile habe ich das Gefühl: Es gibt kein Land, in dem ich sicher bin. Das hat meinen Alltag und auch den meiner Frau, die nicht jüdisch ist, extrem verändert. Zu sehen, wie auch sie Angst bekam, hat mich erschüttert.

Müssen Sie jetzt noch stärker für jüdisches Leben in Deutschland eintreten?

Ich habe schon immer viel getan. Was kann ich denn noch mehr tun?

Zu Ihrem Repertoire gehört auch das Stück ‚Words and Music‘ des irischen Schriftstellers Samuel Beckett, das der jüdisch-amerikanische Komponist Morton Feldman vertont hat. Es geht darin um die Konkurrenz zwischen Wort und Musik. Was kann die Musik, was Worte nicht können?

Musik ist nie konkret. Selbst bei einem Stück wie Richard Strauss‘ Alpensinfonie ist nicht vorgeschrieben, dass man dabei an Alpenpanoramen denken muss. Musik hat eine unglaubliche Emotionalität, die aber Emotionen nicht vorschreibt. Das ist beim Text anders. Das erlebe ich auch ganz stark, wenn es in Deutschland um Judentum geht: Für viele Menschen ist es schon schwierig, das Wort „Jude“ überhaupt auszusprechen. Sie haben Angst, etwas Falsches zu sagen. Und das ist bei der Musik nicht entscheidend: Ich biete mit meiner Musik einen Zugang an, den man in Anspruch nehmen kann oder auch nicht.

Nächstes Jahr feiert das JCOM sein 20-jähriges Bestehen. Haben Sie das Gefühl, etwas bewirkt zu haben?

Wir haben große Erfolge erzielt, auf die ich stolz bin. Ich bin aber nie zufrieden, ich habe nie das Gefühl, alles erreicht zu haben. Mit jedem Konzert erreiche ich meine Ziele im Kleinen.

Am 20. Juni (20 Uhr) tritt das Jewish Chamber Orchestra Munich in Villingen-Schwenningen im Franziskaner Konzerthaus auf. Weitere Informationen: http://www.villingen-schwenningen.de