Manchmal wirft der Zufall das Leben in ganz neue Bahnen. Privat ist das nicht anders als in der großen Politik. Bei Christelle und Thilo Kinzelbach

war das so. Auf einer französischen Studentenparty lernten sie sich kennen: Thilo aus Deutschland, der bei dem Flugzeugbauer Airbus in Toulouse arbeitete, und Christelle aus Frankreich, die im Saarland beim französischen Autobauer Peugeot Deutschland arbeitete.

Das französische Metz.
Das französische Metz. | Bild: jerome DELAHAYE/stock.adobe.com

In Metz kreuzte sich ihr Weg, den sie seither gemeinsam gehen, ein erfolgreiches französisch-deutsches Gemeinschaftsprojekt sozusagen, das den europäischen Traum vom gemeinsamen Haus lebt. „Hundert Jahre früher wäre das so nicht gegangen,“ sagt Thilo (46), dessen Eltern noch in die erbitterte Feindschaft zweier Nationen hineingeboren wurden: Deutschland und Frankreich, die sich im Laufe ihrer mehr als tausendjährigen gemeinsamen Geschichte gegenseitig unendlich viel Leid zugefügt hatten.

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Von sich selbst sagen die Kinzelbachs , dass sie auch eine gewisse Ähnlichkeit im Charakter zusammengeführt habe. Ihre Offenheit für Neues und ihre Interessen für Sprache und Kultur haben sie gemeinsam, und eben dies war es auch, was sie beide schon frühzeitig neugierig machte auf das jeweils andere Land.

Montbeliard in Frankreich.
Montbeliard in Frankreich. | Bild: Sebastien Bozon

Wechselhafte Geschichte

So wuchs Christelle in der FrancheComté auf, im östlichen Teil Frankreichs. Schon ihr Geburtsort Montbéliard (früher Mömpelgard , das nach einer glücklichen Adels-Heirat 400 Jahre lang württembergisch blieb) zeugt von der wechselvollen Geschichte beider Länder.

Ihr Studium der angewandten Sprachwissenschaften führte Christelle an österreichische und deutsche Universitäten. Dabei half ihr das Erasmus-Programm der Europäischen Union, das inzwischen knapp 5 Millionen Studenten, darunter mehr als 650 000 aus Deutschland gefördert hat.

Auch Thilo Kinzelbachs Weg wäre ohne ein gemeinsames Europa nicht denkbar gewesen. Nach einer Lehre bei Lufthansa Technik und seiner Bundeswehrzeit studierte der gebürtige Hamburger in Saarbrücken, der Nahtstelle zum französischen Nachbarn, Maschinenbau. Das Besondere an dem Studiengang ist der europäische Abschluss. Denn nach vier Jahren erwarb er den Dipl. Ing. sowie die französische Maitrise.

Hamburg mit der markanten Elbphilharmonie im Vordergrund.
Hamburg mit der markanten Elbphilharmonie im Vordergrund. | Bild: Daniel Bockwoldt

Flugzeugflotten in Europa

Möglich wurde das an der Deutsch-Französischen Hochschule für Technik und Wirtschaft ( DFHI) deren Gründung beide Länder 1978 durch einen Staatsvertrag besiegelt hatten. Seine erste Stelle bekam Thilo Kinzelbach in der Airbus-Zentrale in Toulouse, dem wohl bekanntesten aller europäischen Projekte, das längst ganze Flugzeugflotten an vielen Standorten Europas baut.

„Ich wollte damals bei Airbus in Toulouse arbeiten oder an der Raketenbasis in Französisch-Guayana„, erinnert sich der Ingenieur. Am Ende blieb es bei Airbus, wo er an dem Projekt des Riesenvogels A380 mitarbeitete.

Der Airbus A380 beim Takeoff von Sydney, Australien in Richtung Zürich.
Der Airbus A380 beim Takeoff von Sydney, Australien in Richtung Zürich. | Bild: TORSTEN BLACKWOOD

Auch familiär ging es europäisch weiter. Anderthalb Jahre nach der Studentenparty, zu der sie ein Nachbar und Freund Thilos aus Saarbrücken mitgenommen hatte, gab Christelle ihren Job in Saarbrücken auf und zog zu Thilo nach Toulouse. In dieser Zeit kam Tochter Lena auf die Welt, während Sohn Benjamin nach einem weiteren Umzug in Hamburg geboren wurde. Beide Kinder bekamen von Anfang an den deutschen und französischen Pass.

Airbus in Toulouse.
Airbus in Toulouse. | Bild: REMY GABALDA

Vor allem Christelle wollte gern in den Süden Deutschlands, in die Nähe ihrer französischen Heimat, wo auch ihre Eltern leben. Deutschland weckte schon seit ihrer Jugend das Interesse der Französin. Ihre Großmutter wurde gezwungen, als junge Frau während des Zweiten Weltkriegs in Deutschland Zwangsarbeit zu verrichten.

Harte Arbeit

Damit teilte sie das Schicksal mehrerer Hunderttausend anderer Franzosen, die während des Nationalsozialismus als Zivilarbeiter eingesetzt wurden. In Duisburg hatte sie als Näherin gearbeitet und sich mit einer gleichaltrigen deutschen Frau angefreundet. Zwangsarbeiter litten teilweise entsetzlichen Hunger, daher steckte ihr die Mutter der deutschen Freundin immer wieder Essen zu.

„Nach dem Krieg suchte die Großmutter ihre Freundin, sie fand sie, und die Freundschaft dauerte ein Leben lang.“Christelle besuchte die alte Dame, die für das andere, das bessere Deutschland stand, oftmals im Ruhrgebiet: „Das war mir wichtig, das weiter zu führen.“

Neue Heimat am Bodensee

Heute wohnen Kinzelbachs in Radolfzell. „Der Bodensee ist es dann geworden,“ sagt Thilo schmunzelnd. Nicht nur familiär, auch beruflich wäre die Zukunft für beide ohne ein geeintes Europa nicht denkbar. Thilo arbeitet in Engen für das Unternehmen allsafe GmbH & Co KG, einem Marktführer bei der Herstellung von Ladungssicherungen.

„Ich bin europaweit unterwegs und profitiere von der Dreisprachigkeit, zu der auch Englisch zählt“, sagt Thilo Kinzelbach. „Wenn wir auch noch überall Zölle hätten, wäre das für unseren Betrieb sehr sehr schwierig.“ In der Zusammenarbeit mit in der Schweiz oder China ansässigen Unternehmen beispielsweise, die nicht zur EU gehören, sei das Zollproblem deutlich spürbar.

Gemeinsamer Markt

Der gemeinsame Binnenmarkt, den es seit bald zwei Jahrzehnten gibt, ist für Deutsche wie Franzosen heute selbstverständlich.Thilo, der sich in seiner Freizeit mit dem Designen und Bau bunter Stehlampen beschäftigt, hofft auch hier eines Tages auf den Durchbruch. „Zuerst in Deutschland, dann in ganz Europa„, das sei sein Traum, sagt er schmunzelnd.

Christelle wiederum betreut vor allem französische Kunden bei dem führenden Dental-Unternehmen Renfert in Hilzingen. Sie weiß um die Vorteile der Zweisprachigkeit, die ein wesentlicher Teil des europäischen Alltags ist. Und eben dies möchte sie ihren Kindern auch vermitteln.

Emotionale Bindung

„Wir wollen, dass unsere Kinder auch emotional an Frankreich gebunden sind,“ sagt Christelle. Das ist ein Grund dafür, dass sie auch am Mittagstisch zu Hause Deutsch und Französisch sprechen. Schriftlich gehe es bei den Kindern im Deutschen noch besser als im Französischen, sagt Christelle Kinzelbach. Würden sie in Frankreich wohnen, wäre es vermutlich umgekehrt.

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Ein Leben nur in Deutschland ist für die Familieneuropäer nicht vorstellbar. Die Kinder fahren in den Ferien oftmals zu den Großeltern nach Montbéliard und gemeinsam reist die Familie immer wieder mal durch Frankreich. So wie kürzlich erst in den Osterferien, als sie in Paris waren und sich über die Brandkatastrophe von Notre Dame informierten.

Austausch mit dem Nachbarland

Als Austauschschülerin sammelt Lena (14) Erfahrungen über jugendliche Franzosen, im Gegenzug erwarten sie jetzt eine Austauschschülerin aus Frankreich. Ihr Bruder Benjamin (11) sucht sich seine Helden auch in Frankreich. Griezmann und Mbappé , die beiden herausragenden französischen Weltmeister, sind die Idole des Fußball-begeisterten Jungen.

Ein bisschen Europa erleben die Kinzelbachs an jedem Morgen und Abend, wenn der Airbus A380 über ihrem Haus im Anflug auf Zürich ist. „Darauf bin ich stolz, weil ich Teil dieses Projekts war,“ sagt Thilo, für den das deutsch-französisch- spanisch-britische Produkt mehr ist als ein Symbol für ein geeintes Europa.

Pünktlicher Riesenvogel

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Auch die Pünktlichkeit des Riesenvogels, der jeden Tag nach genau sieben Stunden von Singapur kommend in Kloten aufsetzt, freue ihn. „Es ist traurig dass das Flugzeug nicht mehr produziert werden soll,“ sagt er mit einem Schuss Wehmut. Schließlich sei das Flugzeug auch ein Stück gelebtes Europa. Aber: Es kommen neue, ist sich Kinzelbach sicher.

Die SÜDKURIER-Europaserie

Am 26. Mai sind Europawahlen. Bis dahin wollen wir, die Redakteure des SÜDKURIER, einen Blick in die Region werfen: Wie sehr betrifft die EU die Bürger hier, was denken sie darüber und welche Vorteile oder auch Schwierigkeiten bringt die EU mit sich? All das wollen wir in der heute beginnenden achtteiligen Serie beleuchten – kritisch und fundiert. Dieser erste Teil ist der Auftakt der Reihe, in der unsere Leser die Protagonisten sind. In den kommenden sechs Teilen sprechen wir mit Menschen, die von der EU begeistert sind oder ihr skeptisch gegenüberstehen. Mit Menschen, die von ihr profitieren und solchen, die für sie arbeiten. Mit Menschen, deren Leben von der EU geprägt ist. Schließlich sprechen wir mit einem EU-Experten, bevor wir im Schlussteil erklären, wie genau die Wahl abläuft. Diese Reise durch die Region ist auch eine Reise durch die EU,auf die wir Sie, unsere Leser, gerne mitnehmen möchten. (mim)