Ein Haus mit 12 Wohneinheiten im Hegau-Städtchen Rielasingen-Worblingen. Ruhige Straße, grasgesäumter Plattenweg, sauberes Treppenhaus, Zwei-Zimmer-Küche-Bad, bescheiden, aber wohnlich, unauffällig. Und doch gut für eine Überraschung. Im Flur fällt ein großer Schreibtisch auf – mit Rechner, Monitor, Drucker und Ablagen, Aktenordner griffbereit neben dem Drehstuhl. Es riecht nach Arbeit. „Ich muss etwas bewegen oder daran arbeiten, etwas zu bewegen“, sagt die Gastgeberin Carina Klede-Arman, 65. Seit September 2016 ist sie in Rente. Tätig aber ist sie täglich, und das nicht nur, weil sie heute Nacht noch einmal Oma geworden ist.
„Ich habe mich schon vor dem Renteneintritt als Integrationsfachkraft beworben“, sagt die Ruheständlerin. „Stundenweise für die Betreuung eines Kindes.“ Carina Klede-Arman ist ausgebildete Heilpädagogin, der Lebenslauf mit allen beruflichen Stationen zwischen dem Hotzenwald und Berlin füllen zwei DIN-A4-Seiten aus. Ihre Fähigkeiten sind in Kindergärten gefragt. Die Chancen stehen gut, dass Klede-Arman ihre Erfahrung aus 40 Berufsjahren bald einbringen kann.

Am Ende des Monats zählt jeder Cent
Doch wäre es schön, wenn es der Rentnerin nur um einen erfüllenden Ruhestand ginge. Ihre Familie – sie hat zwei Kinder großgezogen – und ihr Ehrenamt als Ortsvereinsvorsitzende des Sozialverbands VdK tragen sie. Indessen will und muss Klede-Arman weiter arbeiten, weil sie den Zuverdienst neben der Rente braucht. „300 bis 400 Euro zu meiner Rente sollten es etwa sein“, sagt sie. Es ist Geld, auf das sie angewiesen ist.
Sie hat Einnahmen und Ausgaben gelistet: Die Rente beträgt 996 Euro. Dazu kommt eine kleine Betriebsrente von 25 Euro, macht 1021 Euro. Auf den ersten Blick nicht wenig. Die monatliche Standardrente in den alten Bundesländern liegt bei rund 1230 Euro. Allerdings belasten Klede-Arman, wie viele Rentner, hohe Fixkosten: Miete, Nebenkosten und Strom (zusammen 520 Euro); Kranken- und Pflegeversicherung kosten 193 Euro, wobei sie durch einen Zuschlag von 72 Euro entlastet wird, sodass 120 Euro fällig sind. Zusammen mit Zahnzusatzversicherung und Telefon-Flatrate addieren sich alle Kosten auf 728 Euro. „Unterm Strich bleiben mir zum Leben 293 Euro.“ Da muss sie schon scharf rechnen. Von Zeitschriften-Abos hat sich die Rentnerin getrennt. Und ihr kleines Auto müsste sie eigentlich abmelden. Aber sie braucht es oft, „Mobilität ist mir wichtig“, sagt Klede-Arman. Der Nebenverdienst ist also dringend notwendig.
"Eine zunehmende Zahl von Menschen wird nach dem Ruhestand weiter berufstätig sein“
Carina Klede-Arman steht mit dieser Anforderung im Alter nicht allein da. In Deutschland arbeiten immer mehr Ältere jenseits des offiziellen Ruhestands. Knapp sechs Prozent der über 65-Jährigen bessern nach Auskunft des Bundesarbeitsministeriums mit einem Minijob ihre Rente auf. Das sind 943 000 Menschen und damit 22 Prozent mehr als im Jahr 2010. Noch klarer zeichnet sich der Trend ab, wenn man auf jene sieht, die noch mit 75 Jahren und mehr arbeiten. Seit 2010 sind es in dieser Altersklasse 57 Prozent mehr Senioren, die einem Job nachgehen. Wer das offizielle Rentenalter erreicht hat, darf im Unruhestand unbegrenzt hinzuverdienen.
Das Renteneintrittsalter wird bis zum Jahr 2029 stufenweise auf 67 Jahre angehoben. Der erste Geburtsjahrgang, der so lange arbeiten muss, ist der von 1964. Doch es ist ein wahrer Wettbewerb darüber losgebrochen, wer das höchste Renteneintrittsalter fordert. Zuletzt nannte das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW) die Zahl 73. Grundlagen für solche Projektionen sind Studien. Die wissen, dass inzwischen die geburtenstarken Jahrgänge verstärkt in Rente gehen. Zugleich steigt die Lebenserwartung: Heute 65-jährige Männer werden im Schnitt älter als 82, Frauen fast 86.
Die steigenden Zahlen aktiver Ruheständler werden durch die stufenweise Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre (erreicht beim Jahrgang 1964) zwar relativiert. „Aber eine zunehmende Zahl von Menschen wird nach dem Ruhestand weiter berufstätig sein“, sagt Holger Schäfer vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln. Denn zum einen nehme der Fachkräftebedarf der Betriebe zu, zum anderen liefere die demografische Entwicklung weniger Nachwuchs. Da die Deutschen statistisch gesehen länger gesund bleiben als früher und immer älter werden, sei eine „zweite Berufskarriere“ im Alter nichts Ungewöhnliches mehr, so Schäfer.
Finanzielle Not als Hauptfaktor
Längst hat sich um die werktätigen Rentner ein eigener Markt entwickelt. Von wachsender Bedeutung sind Internet-Portale wie Rent a Rentner (Miete einen Rentner), „Alte Profis“ oder die Rentner-Börse. Die Job-Palette ist breit. Renter bieten hier online ihre Dienste an als Babysitter, Ausfahrer, Telefonberater, Katzen-Versorger oder Handwerker. Die Anstellung erfolgt stundenweise oder für einen konkreten Auftrag oder längerfristig auf 450-Euro-Basis. Interessenten können auf einem der Portale kostenlos ein persönliches Profil erstellen, in dem sie ihre Job-Leistung beschreiben und Gehaltsvorstellungen unterbreiten.
Arbeitnehmer können flexibler aus dem Berufsleben aussteigen. Künftig kann eine Teilrente mit Teilzeitarbeit kombiniert werden. Das soll Anreiz bieten, länger zu arbeiten. Außerdem dürfen diejenigen, die mit 63 Jahren in Teilrente gehen, künftig deutlich mehr hinzuverdienen. Bislang drohten drastische Kürzungen von bis zu zwei Dritteln, wenn der Hinzuverdienst mehr als 450 Euro im Monat betrug. Ab Juli 2017 können Rentner jährlich 6300 Euro hinzuverdienen.
Meinungsverschiedenheiten gibt es allerdings über die Gründe der Aktivierung im Rentenalter. „Die meisten tun das nicht aus Spaß oder Zeitvertreib, sondern aus finanzieller Not“, sagt Ulrike Mascher, Präsidentin des VdK. Bei der Minijob-Klientel ist der Zwang zur Weiterarbeit vermutlich weit verbreitet. Anders ist es bei jenen, die von keiner Statistik erfasst werden, weil sie mehr als 450 Euro dazuverdienen. Freiberufler etwa wie Ärzte, Anwälte und Ingenieure, die als Berater für Firmen wertvoll sind. „Das sind oft Hochqualifizierte, die sich fit fühlen und aus Spaß weitermachen“, sagt IW-Fachmann Schäfer.
„Das Operieren macht mir immer noch Spaß“
Einer von ihnen ist Privatdozent Dr. Helmut Keller, 67. Er ist Chefarzt der Chirurgischen Abteilung des Loreto-Krankenhauses in Stühlingen am Hochrhein. „Das Operieren macht mir immer noch Spaß“, sagt der Mediziner, der seit 2005 in Stühlingen wirkt und seine Abteilung dort neu aufgebaut hat. Das gibt man nicht auf, nur weil man 65 wird und die grüne OP-Bekleidung an den Haken hängen könnte. Auch wenn die berufsständische Versorgung der Ärzte aus Pflicht- und freiwilligen Beiträgen „eine ausreichend hohe Rente“ (Keller) garantiert, die den Ruhestand kommod macht. In die gesetzliche Rentenversicherung müssen die Mediziner nicht einzahlen.

Helmut Keller ist Arzt durch und durch. Die Empathie für die Patienten ist lebendig geblieben. „Ich freue mich über die Rückmeldung von Patienten, wenn sie mit mir zufrieden sind“, sagt er. Jeden Tag pendelt er aus Donaueschingen ein, wo der Mediziner die Mannschaft seines Tennisclubs verstärkt und in zahlreichen Vereinen Ehrenämter hat. Aber das allein füllt Keller nicht aus, er operierte über 65 hinaus weiter an Gallenblasen und Leistenbrüchen. Lachend gesteht der Chirurg: „Ich bin noch richtig gut motiviert.“
Das klingt nicht nach Rosenschneiden, wenn Keller – verheiratet, zwei erwachsene Söhne – im Mai 68 Jahre alt wird und Stühlingen Ade sagt. Auf die Frage, was er vorhat, lächelt Keller vielsagend. Der Mann wälzt Pläne, das ist klar. Dann verrät er sie: „Ich gehe am 7. Juni an Bord eines Kreuzfahrtschiffs. Als Schiffsarzt.“ 2300 Passagiere, 1300 Besatzungsmitglieder. Keller geht die Kundschaft nicht aus. Nur trägt er dann keinen weißen Doktorkittel, sondern eine weiße Uniform. Mit dreieinhalb Streifen am Ärmel.
Inzwischen sind einige Rentner-Jobportal online. Dazu gehören www.rentarentner.de („Miete einen Rentner“), www.rentner-boerse.de, www.alteprofis.de und www.rentner-sucht-arbeit.de. Sie funktionieren alle ähnlich: Interessenten können sich ohne vorherige Anmeldung über Jobangebote informieren. Wollen sie dann einen Arbeitgeber kontaktieren oder ein Gesuch online stellen, müssen sie sich registrieren und anmelden. Das ist kostenlos, aber man gibt seine Daten preis.
Bei der „Rentner-Börse“ kann man mit den Anbietern ohne Anmeldung direkt Kontakt aufnehmen. Verbraucherexperten raten: Mit den persönlichen Daten bei einer Anmeldung sollte man sparsam umgehen und nicht mehr von sich preisgeben als nötig. Sonst könnte Werbung ins E-Mail-Fach einlaufen oder die Identität könnte gestohlen und missbraucht werden. Mehrere Fähigkeiten anbieten: Es erhöht die Chancen auf einen Job, sich als Anbieter breit aufzustellen. Oft nachgefragt wird „Housesitting“ (sich bei Urlaub um das Haus kümmern und Tiere füttern), Kinderbetreuung, Gartenarbeit und handwerkliches Können.
Wachsamkeit ist wichtig:
Vorsicht bei Angeboten, die das schnelle Geld versprechen! Sie sind kaum seriös. Vorsichtig sollte man auch sein, wenn man in eine geldliche Vorleistung treten soll und wenn keine Voraussetzungen für den Job beschrieben werden. In einem Vertrag sollten Rechte und Pflichten fixiert werden. (mic)