Der gelbe Müllcontainer, in dem Yiftach Twig die letzten Stunden seines Lebens verbrachte, steht noch immer dort: auf einem Sandplatz nahe des Kibbuz Re‘im, dem früheren Gelände des Nova-Festivals, wenige Kilometer von der Grenze zum Gazastreifen. Terroristen der Hamas überfielen das Festival am Morgen des 7. Oktobers vor einem Jahr.
Twig, 27, versteckte sich zusammen mit 15 anderen jungen Menschen zwischen dem Müll. Stundenlang harrten sie dort aus, bis Terroristen neun von ihnen erschossen – auch Yiftach Twig. Ein Künstler hat den Container inzwischen zu einer Gedenkstätte umgestaltet: An den Innen- und Außenwänden hängen Bilder und Kurzbiografien der Opfer, zusammen mit Screenshots ihrer letzten Whatsapp-Chats.
Um 8.47 Uhr schrieb Yiftach Twig an einen Freund: „Ich bin in der Mitte von allem, in einem Müllcontainer. Das ist die Lage. Hier sind Terroristen auf mindestens zwei Seiten.“

Knapp ein Jahr nach dem Angriff steht Yiftachs älteste Schwester Keren Twig, 47, vor dem Container. Es ist staubig, heiß, die Sonne brennt. „Yiftach und ich standen uns sehr nahe“, sagt sie, „trotz des Altersunterschieds.“ Als an jenem Tag die ersten Meldungen von dem Terrorangriff eingehen, sei ihr gar nicht in den Sinn gekommen, dass ihr Bruder womöglich nicht zurückkehren würde.
„Er war der cleverste Mensch, den ich kannte. Er kam aus dem Dorf, vom Land, er kam mit allen möglichen Situationen zurecht.“ Mehr als einmal kommen ihr die Tränen, als sie von ihrem Bruder spricht. Und doch ist sie bereit, seine Geschichte zu erzählen, die auch die Geschichte von fünf besten Freunden ist.
Alle waren sie 27 Jahre alt
In der Nacht auf den 7. Oktober macht sich Yiftach auf den Weg zum Nova-Festival, zusammen mit seinen vier engsten Freunden, drei Männern und einer Frau: Tamar Gutman, Eden Moshe, Dor Toar, Ben Cohen. Sie alle sind 27 Jahre alt. Auf dem Festival feiern sie zwischen Tausenden anderen.
Videos von jenem Morgen zeigen junge Frauen und Männer, die unter buntem Baldachin im Dämmerlicht der aufgehenden Sonne tanzen. Viele Frauen tragen bauchfreie Tops, manche der Tanzenden sind barfuß: Im Süden Israels ist es noch warm zu dieser Jahreszeit.
Gegen 6.30 Uhr morgens heulen die Sirenen auf, die vor Raketenbeschuss warnen. Die Musik läuft noch einige Sekunden weiter, dann beenden die Organisatoren das Festival. Videos zeigen, wie junge Menschen ohne Eile zu ihren Autos schlendern. Noch weiß niemand, dass Männer der Hamas den Grenzwall durchbrochen haben.
Die Sirenen schrillen auch in Azaria, ein Dorf südlich von Tel Aviv. Hier lebt Keren Twig, hier leben auch ihre Eltern, bei denen Yiftach wohnte. Keren Twigs Haus hat keinen Schutzraum, deshalb zieht sie sich mit ihrem vierjährigen Sohn Neta ins Treppenhaus zurück, das im Falle eines Einschlags den größten Schutz bietet. Danach bringt sie Neta zurück ins Bett.
Dass die Hamas Raketen über die Grenze schießt, ist Teil der seltsamen israelischen Realität, die die Menschen in diesem Land gelehrt hat, in jeder Sekunde von Routine- in Notfallmodus umzuschalten – und umgekehrt.
Der Terror in Kurznachrichten
Doch schnell wird klar, dass dieser Angriff sich von früheren unterscheidet. Eine Stunde später schrillen die Sirenen erneut. Und bald darauf gibt es erste Meldungen, dass Terroristen den Grenzwall durchbrochen haben. Keren Twig ruft ihren Bruder an. „Er sagte mir, er habe sich in einem Müllcontainer versteckt und sei in Sicherheit.“
Seinem Freund schreibt Yiftach um 9.19 Uhr: „Sie (die Terroristen, Anm. d. Red.) sind hier. Sie sind neben dem Container. Gleich erledigen sie uns. Noch eine Sekunde.“
9.20 Uhr: „Mein Bruder, noch eine Sekunde.“
9.27 Uhr: „Lebe noch.“
Es gibt eine Handyaufnahme davon, wie Yiftach Twig in pinkfarbenem Shirt und kurzer Hose zwischen schwarzen Müllsäcken sitzt. Fast fünf Stunden harren er und die anderen dort aus.
9.36 Uhr: „Falls mir etwas passiert, sag meinen Eltern, dass ich sie liebe.“
9.56 Uhr: „Wir sind wie Leichen im Müll.“
Keren Twig erzählt, um 11.47 Uhr habe sie plötzlich einen starken Schmerz in der Magengegend gespürt. „Später hat sich herausgestellt, dass exakt in diesem Augenblick ein Terrorist in den Container stieg und Yiftach erschoss.“ Zwei junge Frauen, die das Massaker im Container überleben, werden ihr später erzählen, Yiftach habe sich auf sie geworfen und mit seinem Körper vor den Kugeln geschützt.
Keiner der fünf Freunde überlebt. Die vier anderen werden erschossen, als sie versuchen, im Wagen zu fliehen. Die Leiche der jungen Frau, Tamar Gutman, wird nie gefunden; ein Knochenfragment bringt Wochen nach dem Angriff Gewissheit, dass auch sie tot sein muss. Vermutlich haben ihre Mörder ihre Leiche verbrannt, so wie sie es mit vielen Leichen taten.
Ganze Familien ausgelöscht
Fast 1200 Menschen ermorden die Terroristen an jenem Tag, viele auf grausame Art und Weise. 240 weitere verschleppen sie in den Gazastreifen. In den Kibbuzim nahe der Grenze werden ganze Familien ausgelöscht. Über 360 der Ermordeten hatten, wie Yiftach Twig und seine Freunde, das Nova-Festival besucht.
Inzwischen haben Aktivisten und Angehörige den Ort zu einer Gedenkstätte gemacht: Für jedes Opfer haben sie einen Stab aufgestellt, an dem ein Foto des Opfers hängt, zusammen mit Geburts- und Sterbedaten. Die Menschen auf den Fotos lachen, sie haben frische, fröhliche Gesichter. Die meisten von ihnen waren in ihren Zwanzigern.
Am Rand der Gedenkstätte nimmt Keren Twig nun auf einem Plastikstuhl Platz. Neben ihr sitzen drei Schwestern und ein Bruder der vier Freunde Yiftachs. Die Fünf sind hier zusammengekommen, um einer Gruppe internationaler Reporter die Geschichte ihrer Geschwister zu erzählen.
Die Geschichte fünf junger Menschen, die zusammen in einer ländlichen Gegend südlich von Tel Aviv aufwuchsen, zusammen reisten, zusammen feierten. Und die schließlich zusammen starben. „Sie hingen ständig zusammen“, erzählt Adva Gutman Tirosh, Tamars ältere Schwester, mit geröteten Augen. „Ich habe Tamar manchmal gefragt: Warum ziehst du nicht nach Tel Aviv? Sie sagte: Ich bleibe lieber bei meinen Freunden.“
Die Trauer hat die fünf Familien zusammengebracht. „Wir sind zu einer einzigen großen Familie geworden“, sagt Keren Twig. „Wir trösten einander, wir unterstützen einander. Es ist, als wäre das der letzte Wille von Yiftach und seinen Freunden.“
Hin und wieder zerreißt ein Knall die gedrückte Stille: Artilleriefeuer im nahen Gazastreifen, wo noch immer Krieg herrscht. Zwar hat Israels Verteidigungsminister Yoav Gallant kürzlich verkündet, die Hamas in Gaza sei keine „organisierte militärische Kraft“ mehr. Dennoch gehen die Kämpfe weiter, wenngleich in kleinerem Umfang als zuvor.
Über 40.000 Palästinenser sollen in dem Krieg bislang ums Leben gekommen sein, wobei die Hamas-Behörden, die die Opferzahlen liefern, nicht zwischen Zivilisten und Kämpfern unterscheiden. Über 300 israelische Soldaten sind dort gefallen, den 7. Oktober nicht eingerechnet. Und noch immer hält die Hamas 101 israelische Geiseln in ihrer Gewalt. Wie viele der Entführten noch am Leben sind, weiß niemand.
Ärger über Istael-Kritik
Es sei schwer, seelisch zu heilen, sagt Keren Twig, solange die Geiseln in Gaza ausharren. Und sie ärgert sich über die harsche Kritik vieler Staaten und Aktivisten an Israels Kriegsführung. „Die Menschen verstehen nicht, dass das hier ein Kampf ist zwischen Menschlichkeit und Unmenschlichkeit“, sagt sie. „Was die Hamas am 7. Oktober getan hat, war wie die Shoah.“ Wie sie denken viele in Israel.
Das Land habe vor einem Jahr nicht nur Yiftach Twig verloren, nicht nur Tamar Gutman, nicht nur all die anderen jungen Menschen. „Sondern auch ihre Kinder und deren Kinder.“ Es ist ein sehr israelischer, vielleicht auch sehr jüdischer Gedanke: Kein Mensch steht für sich allein, jeder führt das Vergangene fort, schreibt die Geschichte der Gemeinschaft weiter. Sofern er lang genug lebt.
Ihr Sohn Neta habe ihr vor Kurzem gesagt, er vergesse allmählich das Gesicht von Onkel Yiftach, erzählt Keren Twig. Daraufhin habe sie ihm Fotos gezeigt. „Und ich habe ihm versprochen: Wir werden Yiftach im Leben nicht vergessen.“