Bonn kämpft. Gut 30 Jahre nach dem Beschluss, Berlin zum Regierungssitz zu machen, verhandelt die Stadt am Rhein über einen Zusatzvertrag, um ihre Bedeutung auch in Zukunft abzusichern. Der Rutschbahneffekt nach Berlin ist nicht wegzudiskutieren. Auch wenn sechs Ministerien nach wie vor in Bonn ihren Hauptsitz haben, fallen die Entscheidungen an der Spree. Berlin ist nicht nur Zentrum der Macht in Deutschland geworden, sondern auch eine riesige Metropole. Der deutschen Politik ist das nicht gut bekommen. Großmannssucht und Berliner Wurstigkeit, Arroganz und Schnoddrigkeit sind in der Hauptstadt zu Hause.
In Bonn war vieles anders. Am Bonner Bundesbüdchen, dem kleinen Verkaufspavillon zwischen Kanzleramt und Bundestag, holte Franz Josef Strauß seine Siedewurst, Joschka Fischer seine Comics und Gerhard Schröder rüttelte gleich nebenan am Zaun des Kanzleramtes. Man traf sich, man kannte sich. Bonn war überschaubar. In Berlin lässt man sich mit Limousinen vom Bundestag zum Gendarmenmarkt chauffieren. Der Politikbetrieb ist abgeschotteter geworden.
„Es könnte genauso gut eine rheinische Sparkasse darin residieren“, sagte Helmut Schmidt, als er 1976 seine Arbeit im alten Kanzleramt in Bonn aufnahm. Beim Kanzleramt in Berlin wird niemand auf diese Idee kommen, es wäre selbst für die Deutsche Bank überdimensioniert. Dabei passte der erste Berliner Hausherr, Gerhard Schröder, besonders gut in den gigantischen Neubau an der Spree mit seiner machtstrotzenden Architektur. Das Berlinerische „Mir kann keener“ manifestiert sich in diesem Bauwerk. Das spürte auch Schröder, der bei seinem Einzug 2001 gleich versicherte: „Von hier aus wird nicht geherrscht, sondern regiert“.
Doch genau daran kamen in den letzten zwei Jahrzehnten Zweifel auf. Zunächst war es Hartz IV, das Gerhard Schröder in einem pompösen Festakt im Französischen Dom am Gendarmenmarkt zusammen mit VW-Arbeitsdirektor Peter Hartz vorstellte, und das seitdem nicht nur die Sozialdemokratie spaltete. Dann seine Nachfolgerin Angela Merkel, die in der Finanzkrise ihre Politik für alternativlos erklärte und später in der Flüchtlingskrise nicht einmal die Länder vorab informierte. Heute ist es Kanzler Olaf Scholz, der die Bevölkerung bei seinen Entscheidungen wenig mitnimmt.
Das Kanzleramt wird gerade erweitert, das sogenannte „Band des Bundes“ wächst, die Regierungs- und Parlamentsbauten entlang der Spree dehnen sich aus. Die Stäbe der Mitarbeiter sind längst Statussymbol in Regierung und Parlament. Nicht nur die räumliche, auch die persönliche Distanz wird größer. Wurde am Rhein noch die berühmte baden-württembergische Stallwächterparty mit einer Handvoll Politikern und Referenten rund um einen Grill im Garten gefeiert, so sind es heute hunderte, die zu den großen Festen der Landesvertretungen ziehen. Es gehört zum Berliner Betrieb, dass sich Parteien und Fraktionen und Landesvertretungen, Macher und Medien immer wieder gegenseitig in großem Rahmen einladen. Doch kleine gemütliche Treffpunkte – wie die Kneipe „Provinz“ in Bonn – fehlen in Berlin. Hier sind es die großen, teuren Italiener, in denen man sich trifft, und mitunter auch in Promilokalen am Gendarmenmarkt, in denen man sich darauf verlassen kann, dass der Wirt die „Bunte“ informiert.
Die Distanz untereinander und die zum Bürger ist größer geworden, das Klima rauer. Der ruppige Berliner Ton scheint abzufärben, Politiker wirken mitunter wie Getriebene, die mit ständiger Begleitung der Medien schnelle Entscheidungen treffen müssen. Die alte Bonner Leichtigkeit ist verloren.
Das Karussell dreht sich immer schneller, während die Sogkraft von Berlin Lobbyisten, Medien, Firmenrepräsentanzen, Stiftungen anzieht. Ganz zu schweigen vom Kulturbetrieb, der allerdings das hat, was Berlin sonst oft fehlt: Weltstadtniveau. Trotzdem krankt das neue Humboldtforum, der Wiederaufbau des Berliner Schlosses, daran, dass man kaum mehr wusste, welches Museum, welche Sammlung denn nun hier noch untergebracht werde sollte. „Berlin ist ein Meister im Selbstmarketing, der alle seine Superlative für wahr hält“, schreibt die Neue Zürcher Zeitung.
„Freiheitlichste Epoche“
Die Entscheidung für den Regierungssitz Berlin war im Jahr 1991 denkbar knapp. Noch vier Wochen vor der Abstimmung des Deutschen Bundestags galt es als sicher, dass der Regierungssitz Bonn bleibt. „Mit Bonn verbindet sich die friedlichste und freiheitlichste Epoche unserer Geschichte. Sie soll nie zu Ende gehen,“ sagte damals Arbeitsminister Norbert Blüm, Vorkämpfer für den Verbleib in Bonn.
Tatsächlich stand und steht Bonn für Bürgerlichkeit im besten Sinne. Eine gediegene, eine ordentliche und reiche Stadt im Westen Deutschlands. Die rheinische Mentalität lag den westdeutschen Ländern näher, in denen heute mehr als fünfmal so viele Einwohner wie in den neuen Bundesländern leben.
Doch in der entscheidenden Debatte des Bundestags zum Umzug war es der Badener Wolfgang Schäuble, der in letzter Minute viele von Berlin überzeugte. Während gerade seine CDU-Kollegen des Südwestens fast einhellig für einen Verbleib in Bonn waren, mahnte Schäuble, dass Europa mehr als Westeuropa sei. „Deshalb ist die Entscheidung für Berlin auch eine Entscheidung für die Überwindung der Teilung Europas“, so Schäuble damals. Auch Bundeskanzler Helmut Kohl erinnerte daran, dass es der Wunsch sei, „dass die Reformstaaten in der östlichen Nachbarschaft, die CSFR, Polen und Ungarn den Weg zu diesem Europa finden.“ Doch Berlin hat die Erwartungen als europäische Stadt nicht erfüllt, weder Osteuropa noch Westeuropa sind näher gerückt. Dass man auf dem Kudamm selbst bei Karstadt die Beschriftung in Russisch hatte, dass Putin im Bundestag sprechen konnte, das alles ist längst Vergangenheit. Auch die Beziehung zu den großen westlichen Verbündeten Großbritannien und Frankreich ist eher schlechter geworden.
Wäre man doch in Bonn geblieben! Hätte man Berlin einfach als schrille, aber spannende Hauptstadt behalten – es wäre Deutschland gut bekommen. Die Niederlande haben es vorgemacht. Sie werden von Den Haag aus regiert, aber ihre Hauptstadt ist Amsterdam.
Heute muss, wer mitmischen will, nach Berlin. Doch die Hauptstadt ist nicht darauf eingerichtet. Nicht nur die CSU lästert über Berlin, sondern auch der Kulturhistoriker Jens Bisky. Und es war leider kein schlechter Witz, dass Berlin es nicht schaffte, die Bundestagswahl, die Wahl des Berliner Abgeordnetenhauses und die Bezirksverordnetenwahlen ordentlich durchzuführen, weil ja der zeitgleich stattfindende Berlin-Marathon der Partystadt wichtiger war. Berlin ist selbst im Kerngeschäft überfordert, ohne es merken zu wollen.
Mit Berlin verbindet sich das Wort Chaos, mit Bonn die glücklichsten Jahre der deutschen Geschichte: Wiederaufbau, Westbindung, Wohlstand. Bonn stand für Deutschland in Europa – und ohne Europa hätte man kein wiedervereinigtes Deutschland – und keinen Regierungssitz Berlin. Das ist die Ironie der Geschichte.