An Liebeserklärungen für Berlin fehlt es nicht. Aber den meisten fehlt das überschwängliche Schwärmen, wie es in den oft hymnischen Huldigungen etwa für Paris, Rom oder auch New York zu finden ist. Wer Berlin besingt, tut das oft mit der charmanten Einschränkung, dass die Hauptstadt „trotz allem“ liebenswert sei.

So etwa Hildegard Knef in ihrem Lied „Berlin, dein Gesicht hat Sommersprossen“. Zu flach für die Schönheitskonkurrenz, der Mund ist zu groß, und die Stirn hat Dackelfalten, heißt es da. Man muss Berlin schon mögen, auch wenn es die Stadt einem nicht leicht macht.

Lange Mängelliste

Die Mängelliste ist lang, mit Berlin-Bashing hat man im Rest der Republik die Lacher immer auf seiner Seite. Das Flughafen-Dilemma, der Müll auf den Straßen, die Wohnungsnot, die Ängste der Radfahrer, der verspätete Bus, die Dealer in den Parks, das Röhren der PS-Protze auf dem Kudamm, das wochenlange Warten auf Trauscheine, Geburtsurkunden, Kfz-Zulassungen oder andere Bescheinigungen gehören ebenso dazu wie marode Schulen, das nicht erkennbare Konzept einer Stadtarchitektur, die sprichwörtliche Schnoddrigkeit der Einheimischen, die Rücksichtslosigkeit im Straßenverkehr und die oft provokante Wurschtigkeit, die sich gern als weltoffene Toleranz ausgibt aber gleichzeitig eine gewisse Kleingärtner-Mentalität nicht verbergen kann. Die Aufzählung ließe sich beliebig fortsetzen.

Problem Wohnungsnot: Berliner demonstrieren gegen die zunehmende Spekulation mit Wohnraum und Wohnungen.
Problem Wohnungsnot: Berliner demonstrieren gegen die zunehmende Spekulation mit Wohnraum und Wohnungen. | Bild: Emmanuele Contini/imago

Warum das alles so ist, haben jetzt zwei Bücher in höchst unterschiedlicher Weise untersucht. Das eine stammt von Jens Bisky, Feuilleton-Redakteur der Süddeutschen Zeitung und heißt „Berlin. Biographie einer großen Stadt“. Mit 907 Textseiten plus 69 Seiten Anhang ein gewichtiges, aber trotz seines Umfangs ein äußerst leicht zu lesendes und reichhaltiges Hauptstadt-Porträt.

Bisky zeichnet die Geschichte der Stadt nach von 1650 bis heute. Die Rückschau macht schnell klar, dass es das heutige Berlin als Stadt erst seit 100 Jahren gibt. Vorher war da nichts als ein Flickenteppich unterschiedlicher Dörfer, Gemeinden und Städten, bestehend aus höfischen Residenzen, Garnisonen, ländlichen Gebieten und Industrieansiedlungen, die oft genug auch verschiedenen Obrigkeiten unterstanden. Schon die Stadtgründung war nichts anderes als die nicht unproblematische Fusion der damals selbständigen Handelsorte Cölln und Berlin im Jahr 1432.

Aufbruch und Kleingeist

Widersprüche und Kontraste sollten denn auch charakteristisch werden für die kommenden Jahrhunderte. Bisky beschreibt, wie Berlin immer auch sein eigenes Gegenteil war. Aufbruch und Kleingeist, Metropole und Kiez, Sehnsuchtsort und Schreckbild, Reaktion und Fortschritt, Aufklärung und Absolutismus standen sich immer gegenüber.

Problem Sicherheit im Fahrradverkehr: Diese Demonstranten protestieren gegen die hohe Zahl an Verkehrsunfällen.
Problem Sicherheit im Fahrradverkehr: Diese Demonstranten protestieren gegen die hohe Zahl an Verkehrsunfällen. | Bild: snapshot-photography T.Seeliger/imago

Man wollte die Metropolen Paris und London mit repräsentativen Bauten nachahmen, aber keinesfalls so werden wie Paris und London. Hier die Stadt des technischen Fortschritts mit der frühen Kanalisation, Elektrifizierung, Fernwärme, großzügigen Verkehrsachsen und zukunftsweisendem öffentlichen Nahverkehr. Dort Laubenpieper und Technikfeindlichkeit, die bis in die jüngste Gegenwart die Ansiedlung von großen Unternehmen behindert. Immer schien die Millionenstadt mit den Erwartungen an sie überfordert.

Zerrissenheit der Systeme

Die Zerrissenheit der Stile und Systeme findet sich auch in der Zusammensetzung der Bevölkerung wieder. Hugenotten, Schlesier, Russen und Polen wurden über die Jahrhunderte hier heimisch. Jeder Zweite, der heute in Berlin lebt, ist nach 1989 zugezogen. Fast schon zwangsläufig und symbolträchtig zugleich, dass schließlich eine Mauer die Stadt mehr als 28 Jahre lang zerteilte.

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Wer Berlin verstehen will, kommt wahrscheinlich nicht vorbei an dem Zitat des 1951 in Überlingen am Bodensee verstorbenen Kunstkritikers Karl Scheffler aus dem Jahr 1910: „Berlin ist dazu verdammt, immerfort zu werden und niemals zu sein“. Bisky nimmt diesen Befund auf „mit sympathisierender Neugier“. Statt böswilliger Häme will Bisky Verständnis und Erklärung liefern, warum in Berlin alles etwas anders ist, woher die Sommersprossen und Dackelfalten herrühren.

Problem Müll: An einem Gehweg stapeln sich Einweg-Kaffeebecher und Plastikschalen.
Problem Müll: An einem Gehweg stapeln sich Einweg-Kaffeebecher und Plastikschalen. | Bild: Gregor Fischer/dpa

Jenseits dieser historischen Redlichkeit und Ernsthaftigkeit versuchen die Berliner Tagesspiegel-Redakteure Lorenz Maroldt und Harald Martenstein ihren Schabernack zu treiben mit der permanent überforderten Hauptstadt. In ihrem Buch „Berlin in 100 Kapitel, von den leider nur 13 fertig wurden“ lästern sie gnadenlos unterhaltsam über die besonderen Schwächen dieser Stadt, in der es angeblich leichter sei, aus dem Gefängnis zu fliehen, als hineinzukommen. Berlin ist für die beiden Spötter der Ort organisierter Unzuständigkeit, wo es vier Jahre dauert, die Statik einer Ampel zu berechnen und sieben Jahre, eine Oper zu sanieren. Vom Flughafen ganz zu schweigen.

Gestrüpp von Kompetenzen

Zu Fuß und mit der U-Bahn durchqueren die Autoren die Stadt, die auch darunter leidet, dass sie aus nicht weniger als zwölf Bezirken und 96 Ortsteilen besteht. Selbstverständlich beansprucht jede Einheit weitreichende Autonomie für sich, was ein recht undurchlässiges Gestrüpp von Kompetenzen ergibt, in dem sich zuverlässig jede geplante Maßnahme verfangen muss.

Und so werden Maroldt und Martensein überall fündig. Vor den Kitas im Invalidenpark, wo drei Jahre und 18 Verwaltungsvorgänge notwendig waren, um einen Zebrastreifen auf die Straße pinseln zu lassen. Oder in Pankow, wo es acht Dienststellen bedurfte, bevor ein Kinderflohmarkt genehmigt wurde. Es war der damalige Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit, der im Jahr 2001 anordnete, man müsse „sparen bis es quietscht“.

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Dieses Quietschen ist in Berlin noch heute überall zu hören und zu spüren. Maroldt und Martenstein machen sich quietschvergnügt über die Folgen lustig. Aber sie stellen auch klar: „Wir kritisieren, was kritisiert werden muss, und erfreuen uns an dem großen Rest, der großartig ist“. So oder so ähnlich wollte wohl auch die Knef verstanden werden.

Jens Bisky: „Berlin. Biographie einer großen Stadt“. Rowohlt Berlin. 976 Seiten, 38 Euro

Harald Martenstein und Jochen Maroldt: „Berlin in 100 Kapiteln, von den leider nur 13 fertig wurden“. Ullstein GmbH, Berlin. 288 Seiten, 19,90 Euro