Unten im Hof stehen die drei Schwestern Viktoria, Gloria und Mina. Sie winken. Oben, hinterm geschlossenen Fenster sitzt Mutter Isabella und wirft ihren Töchtern Kusshände zu. Lustig sieht das aus, beinahe vergnügt. Eine heitere Szene aus unserer neuen Corona-Normalität.

Es winken von links nach recht: Enkelin Nele (verdeckt), Tochter Mina, Enkel Emil und Tochter Viktoria.
Es winken von links nach recht: Enkelin Nele (verdeckt), Tochter Mina, Enkel Emil und Tochter Viktoria. | Bild: privat

Zum Lachen ist den Töchtern allerdings nicht zumute. Seit November 2013 lebt die heute 87-jährige Mutter im Altersheim in Meßkirch. Bis Corona kam, ließen sie ihre Töchter keinen Tag alleine. „Jeden Tag war jemand bei ihr“, erzählt Viktoria Lotzer, Heilpraktikerin in Konstanz und mit 55 die Älteste der drei Schwestern. Immer Abends kam eine der Töchter vorbei, um der Mutter beim Essen zu helfen. Um ein Schwätzchen mit ihr zu halten. Seit Corona ist alles anders.

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Seit Anfang April dürfen Menschen in Alten- und Pflegeheimen nicht mehr besucht werden und auch nicht mehr ohne triftigen Grund, beispielsweise ein Arztbesuch, hinaus. Ein massiver Eingriff in die Grundrechte der alten und pflegebedürftigen Menschen, der damit begründet wird, dass die Hochrisikogruppe besonders geschützt werden muss vor der Lungenkrankheit Covid-19. Tatsächlich ist in Heimen das Risiko hoch, dass es zu Ketteninfektionen kommt, ist das Virus erst mal eingeschleppt. Oft mit tödlichen Folgen.

Depressionen, Lethargie, Appetitlosigkeit

Die Sorge ist nicht aus der Luft gegriffen. Auch im Altenheim St. Martin, wo Isabella Lotzer wohnt, gab es am Osterwochenende einen tödlichen Corona-Fall. Bislang ergaben erste Tests bei Bewohnern und Beschäftigten keine weiteren Ansteckungen. Bislang starben in den Pflegeheimen im Land laut Landesgesundheitsamt 420 Menschen.

Andreas Kruse, Leiter des Instituts für Gerontologie an der Uni Heidelberg
Andreas Kruse, Leiter des Instituts für Gerontologie an der Uni Heidelberg | Bild: privat

Trotzdem plant die Landesregierung nun, das strenge Besuchsverbot wieder zu lockern. Zu negativ sind die Folgen der Isolation. Zunehmend werde von Depressionen, Lethargie, Appetitlosigkeit und anderen Symptomen der isolierten Senioren berichtet, heißt es in einem Schreiben, das am Montagabend den Einrichtungen im Land zuging. Dies habe schwere gesundheitliche Schädigungen bis hin zum Tod zur Folge. Auch der Heidelberger Gerontologe Andreas Kruse warnt vor den Risiken der Einsamkeit: „Isolation alter Menschen ist nicht nur ein Verstoß gegen die Würde, sondern auch gegen die Gesundheit“, sagte Kruse dem SÜDKURIER.

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Schutzkleidung und Abtrennungen aus Plexiglas

Künftig sollen nahestehende Personen – mit Schutzkleidung ausgerüstet – wieder ihre Angehörigen besuchen können, „wenn anderenfalls körperliche und seelische Schäden durch eine soziale Isolation drohen“, so die einschränkende Formulierung. Auch räumlich abgetrennte Besucherräume oder Besuchercontainerlösungen könnten – etwa durch Abtrennungen aus Plexiglas – eine Möglichkeit sein. Weitere Schritte soll eine eigens gegründete Arbeitsgruppe in den kommenden Wochen erarbeiten, an denen Kommunalen Landesverbände, die Einrichtungsträgerverbände, der Landesseniorenrat sowie Experten der Pflegewissenschaft, der Gesundheitsämter und der Pflegekassen beteiligt sind. Diese sollen in eine weitere verbindliche Verordnung münden.

Geklärt werden muss dabei sicherlich auch, wie das funktionieren soll. Zum Beispiel war die Schutzkleidung, die Angehörige bei künftigen Besuchen tragen sollen, bislang Mangelware. Zwar sei die Situation nicht mehr so schwierig wie vor einigen Wochen, aber es gebe noch keinen Grund zur endgültigen Entwarnung, berichtet Alexander Sperl, Vorstand der Caritas Sigmaringen, zu der auch das Heim von Isabella Lotzer gehört. Bei einem Erkrankungsfall sei der Vorrat ganz schnell aufgebraucht. Zumindest bei der Finanzierung sieht man weniger Probleme: Durch das es gibt ja das sogenannte Krankenhausentlastungsgesetz würden zusätzliche „Corona bedingte“ Aufwendungen erstattet.

Schlimmes Beispiel für eine Ketteninfektion mit dem Coronavirus: Von den rund 180 Bewohnern des Hauses Schönblick in Bretten (Landkreis ...
Schlimmes Beispiel für eine Ketteninfektion mit dem Coronavirus: Von den rund 180 Bewohnern des Hauses Schönblick in Bretten (Landkreis Karlsruhe) hatten sich 137 mit dem Coronavirus infiziert, 36 sind inzwischen gestorben. | Bild: Uli Deck

Wer darf Besuch erhalten?

Wie viele Alten- und Pflegeheimbewohner bald wieder Besuch empfangen können, steht noch in den Sternen. Die Caritas Sigmaringen sieht das Besuchsverbot – nach Kenntnisstand von Dienstag – nicht grundsätzlich ausgesetzt. Besuchsmöglichkeiten sollten nur eingeräumt werden, wenn beispielsweise eine schwere gesundheitliche Beeinträchtigung drohe. „Das heißt für uns zunächst einmal, dass wir überprüfen müssen, ob eine solche Situation vorliegt“, schreibt Vorstand Alexander Sperl auf Anfrage. Hier könnte sich das Heim gegebenenfalls den Rat des Hausarztes holen. „Insoweit hat sich an der aktuellen Situation erst einmal nichts verändert.“ Die Möglichkeit von Besuchen vielleicht schon am kommenden Wochenende schließt die Caritas Sigmaringen jedenfalls aus – „es sei denn, es liegt ein gravierender Einzelfall vor, was zumindest aber derzeit in unseren Einrichtungen nicht der Fall ist“.

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Die Lotzers werden also erstmal weiter unterm Fenster stehen und sich gegenseitig zuwinken. Manchmal wird auch parallel telefoniert und durchs Fenster gewunken. Voraussetzung ist, dass eine der Pflegekräfte dafür Zeit hat. Auf die lassen die Lotzer-Schwestern nichts kommen. „Die machen, was sie können.“ Trotzdem weckt die Aussicht auf eine mögliche direkte Begegnung Hoffnungen: „Total froh“ mache sie die Nachricht, schreibt Viktoria Lotzer am Dienstag per Mail. Ideen für einen Treffpunkt hat sie auch: Im schönen Innenhof des Altenheims, zum Beispiel.

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Wer sich mit den Lotzers unterhält, dem wird klar, dass es höchste Zeit ist, dass etwas geschieht. Der Mutter, die seit jeher ein ängstlicher Mensch gewesen sei, mache das Virus Angst, berichtet Viktoria Lotzer. „Wir hoffen und beten, dass wir sie nicht verlieren.“ Was allen fehlt, am meisten aber der 87-jährigen Mutter, ist die Perspektive, wie es weitergeht. Die erste Frage ihrer Mama sei immer: „Wie lange geht das noch?“ Vielleicht gibt es darauf bald eine Antwort.