Brigitte Geiselhart

Fast alle Bundesbürger kennen die Patientenverfügung. Viele ziehen sie in Erwägung und etwa 23 Prozent haben sie. Bei den über 65-Jährigen sollen es mittlerweile mehr als 50 Prozent sein – Tendenz steigend. In der Patientenverfügung kann jeder Volljährige erklären, welche ärztlichen Behandlungen er wünscht oder ablehnt, wenn der Fall eintritt, dass er selbst nicht mehr entscheiden kann.

„In einer Patientenverfügung können Sie schriftlich für den Fall Ihrer Entscheidungsunfähigkeit im Voraus festlegen, ob und wie Sie in bestimmten Situationen ärztlich behandelt werden möchten.“ So steht es in der Patientenverfügungs-Broschüre des Bundesjustizministeriums. Es geht um Situationen, „wenn ich mich aller Wahrscheinlichkeit nach unabwendbar im unmittelbaren Sterbeprozess befinde“, oder „wenn ich mich im Endstadium einer unheilbaren, tödlich verlaufenden Krankheit befinde, selbst wenn der Todeszeitpunkt noch nicht absehbar ist“.

Laut einer aktuellen Umfrage von Forsa glauben knapp zwei Drittel aller Deutschen, die nächsten Verwandten seien automatisch befugt, Entscheidungen zu treffen, wenn man selbst aufgrund einer Krankheit oder eines Unfalls selbst nicht mehr dazu in der Lage ist – ein fataler Irrtum.

Sandra Berthold ist 44 Jahre alt, kommt aus Friedrichshafen, hat eine Patientenverfügung und eine bewegende Lebensgeschichte. Brustkrebs – mit dieser erschütternden Diagnose wurde die 44-Jährige im März 2013 konfrontiert, nachdem sie zuvor selbst einen Knoten in ihrer Brust entdeckt hatte. Untersuchungen, Operation, monatelange Chemotherapie, ein quälendes Hoffen und Bangen, immer wieder Rückschläge und eine weitere Operation – all das sollte folgen. Die Patientenverfügung noch vor ihrer ersten Operation im Frühjahr 2013 auszufüllen, war für Sandra Berthold selbstverständlich. Und sie hat ihren Partner, ebenfalls Anfang 40 und ein begeisterter Hobby-Motorradfahrer, dazu bewegen können, es ihr gleichzutun.

Mit dem Gedanken an eine Patientenverfügung hat sich Sandra Berthold allerdings schon vor der eigenen Erkrankung vertraut gemacht. Der Vater war seit Jahren schwerbehindert und krank. Auch die Mutter war in fortgeschrittenem Alter. Sandra Berthold holte für die ganze Familie eine Vorsorgemappe. „Wir wollten vorsorgen. Das war auch der Wunsch der Eltern. Wir haben uns einen ganzen Mittag zusammengesetzt und sehr rational und nüchtern über alles gesprochen“, ergänzt Sandra Bertholds 57-jährige Schwester Georgia Raithmaier. „Mein Vater hatte einen großen Lebenswillen. Die Horrorvorstellung für ihn war aber, irgendwann an allen möglichen Maschinen zu hängen, sich nicht mehr bewegen und verständlich machen zu können.“

Diesen Wunsch nach Selbstbestimmung teilen viele: Menschenwürdig und selbstbestimmt vom Leben Abschied nehmen zu dürfen, ist die gesetzliche Grundlage der Patientenverfügung. Ist die Form richtig gewählt, ist diese Verfügung für die behandelnden Ärzte bindend. Im Vorfeld sollte die fachliche Beratung durch den Hausarzt stehen. Wichtig ist auch die Wahl der Person des Vertrauens, die als Betreuer benannt werden sollte. Sie setzt sich dafür ein, dass entsprechend des Willens des Patienten gehandelt wird.

Dass eine solche Verfügung wichtig ist, darüber ist man sich in Deutschland laut Statistik mehrheitlich einig. Doch nicht einmal ein Viertel aller Bürger haben tatsächlich eine Patientenverfügung. Sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen, das heißt auch, sich mit Leiden und Sterben intensiver zu beschäftigen. Doch das ist schwierig: Muss das denn heute schon sein? Hat das nicht noch Zeit? Und wann sollte man dieses Thema angehen? Der promovierte Mediziner Detlev Jäger aus Friedrichshafen fasst es zusammen: „Wenn man beginnt, über das Leben nachzudenken, muss man auch über Sterben und Tod nachdenken. Viele Menschen schaffen das leider niemals, andere schon mit 14 Jahren.“

Sandra Berthold und Georgia Raithmaier erlebten den Sinn der Vorsorge im Familienkreis: Nach einer weiteren Verschlechterung der Gesundheit war für den Vater ein halbes Jahr Pflegeheim unausweichlich – und dann trat der Fall der Fälle ein: Notarzt, Krankenhaus, nicht mehr ansprechbar, ausweglose Situation. Die Frau und Mutter, drei Töchter, Schwiegersöhne und Enkel, alle standen hinter dem geliebten Familienoberhaupt – und hinter der von ihm ausgefüllten Patientenverfügung. Am 9. November 2013 verstarb der Vater im Alter von 89 Jahren. „Unnötige lebensverlängernde Maßnahmen wären nur ein Hinauszögern gewesen“, sind sich die beiden Töchter einig.

So sieht es auch Sandra Berthold: „Ein langes Hinauszögern, das will ich nicht. Wenn ich nicht entscheiden kann, wenn ich ins Koma falle, mich nicht mehr äußern kann und wenn die Ärzte keine Chance mehr sehen, dann will ich keine Verlängerung“, ist sich die 44-Jährige sicher. Während der Leidenszeit des Vaters hat sie aber auch selbst schwer zu kämpfen. „Diese Krankheit darf nicht Besitz von mir und meinem Leben ergreifen“, spricht sie sich in schweren Zeiten immer wieder Mut zu – auch im Bewusstsein, auf die Unterstützung des Partners, der Familie, der Arbeitskollegen und Freunde vertrauen zu können. „Jeder Krebs ist schlimm. Ich habe aber die Erfahrung gemacht, dass es gegenseitig Ängste abbaut, wenn man dieses leider noch allzu oft anzutreffende Tabu bricht und ganz offen darüber spricht und so vielleicht sogar zum Hoffnungsträger für andere wird. Ich will mich auf jeden Fall nicht verstecken“, sagt Sandra Berthold heute mit Optimismus und Selbstbewusstsein.

Dass ihr Lebenspartner ebenso wie ihre beiden Schwestern gegebenenfalls ihre Wünsche respektieren und ihre Interessen vertreten, auch das ist ihr wichtig. „Wir wissen, dass wir uns in guten wie in schlechten Zeiten aufeinander verlassen können“, bestätigt Georgia Raithmaier. „Natürlich denke ich beim Wort Patientenverfügung als erstes an meine Schwester. Natürlich hat ihr Befund auch bei mir Angst ausgelöst. Aus genetischer Sicht bin auch ich risikobehaftet. Bei meinem Vater war ein Ende abzusehen, aber wenn jüngere Menschen sich mit Leiden und Tod auseinandersetzen müssen, dann geht das doch unter die Haut“, sagt sie. Als die Diagnose gestellt wurde, war sie mit dabei, hat die Hand von Sandra Berthold fest gedrückt und mit ihr geweint, hat später die Schwester immer zur Chemotherapie begleitet. „Eine intensive Zeit, die uns noch mehr miteinander verbunden hat“, so die gemeinsame dankbare Erkenntnis.

Doch so weit wie ihre Schwester ist Georgia Raithmaier mit ihrer eigenen Vorsorge noch nicht. „Meine Vorsorgemappe liegt griffbereit zu Hause – unausgefüllt“, räumt sie ein. „Eigentlich wollte ich das schon über die Feiertage erledigen. Das mache ich, wenn ich Ruhe und Zeit habe. Meist brauche ich aber auch einen Anstoß, um Unangenehmes nicht ständig vor mir herzuschieben. Das heutige Gespräch könnte so ein Anstoß gewesen sein. Man darf nie vergessen, dass jeden Tag etwas passieren kann.“

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