Die bisherige Lehrmeinung, wonach hohe Stickoxid (Nox)- und Feinstaubwerte zu Tausenden vorzeitigen Todesfällen führten, halten die Experten – darunter allein 20 Professoren aus dem Fachgebiet Lungenheilkunde – für fehlerhaft, wenn nicht für unhaltbar. Was stimmt nun? Anbei der Versuch, Licht ins Dunkel zu bringen.
- Um was geht es in der Debatte? Die Luft in deutschen Städten ist zu schmutzig – zumindest wenn die zulässigen Grenzwerte als Maß herangezogen werden. Im Zentrum der Kritik stehen Luftschadstoffe, die bei Verbrennungsprozessen entstehen und maßgeblich – aber nicht nur – auf den Verkehr zurückzuführen sind. Zu nennen wären Stickoxide (Nox), Feinstaub, auch das Lungengift Ozon. Zwar stellten viele Städte schon vor Jahren sogenannte Luftreinhaltepläne auf, diese erwiesen sich aber oft als wenig effektiv und nicht geeignet, die Luft sauber zu machen. In diese Lücke stießen Umweltorganisationen wie die Deutsche Umwelthilfe (DUH) und klagten gegen die Städte. Als Wendepunkt in der Debatte erwies sich ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom Februar 2018, das Diesel-Fahrverbote für grundsätzlich zulässig erklärte. Seither hagelt es juristische Klatschen für die Umweltpolitik der Großstädte. In Stuttgart gilt bereits ein Fahrverbot für Alt-Diesel ab Euro 4 und schlechter, auch in anderen Städten sollen Alt-Diesel ausgeschlossen werden.
- Wie entwickelt sich die Schadstoffbelastung in den Städten? Die Luft dort wird immer sauberer. Wurden dort nach Angaben des Dessauer Umweltbundesamts (UBA) zu Beginn der 1990er-Jahre noch Feinstaub-Jahresmittelwerte um 50 Mikrogramm pro Kubikmeter gemessen, liegt der Wert heute bei rund einem Drittel dessen und damit deutlich unter dem Jahres-Grenzwert. Tageweise kommt es allerdings in vielen Städten noch zu Überschreitungen. Das zulässige Maß überschritt allerdings selbst die Feinstaub-Hochburg Stuttgart letzmalig 2017. Kurz: Das Feinstaubproblem hat sich auch in den Metropolen entspannt.
- Wie ist es zur verbesserten Luftreinhaltung gekommen? Der Rückgang des Feinstaubs lässt sich zum Beispiel mit der Einrichtung von Umweltzonen erklären, die seit rund zehn Jahren Alt-Diesel ohne Grüne Plakette aus den Städten aussperren. Dazu kommen freiwillige Aktionen wie der Feinstaubalarm, mit dem Pendler – etwa in Stuttgart – darauf hingeweisen werden, das Auto stehen zu lassen und mit verbilligten ÖPNV-Tickets in die Innenstadt zu fahren. Auch ein partielles Verbot von Komfortöfen und bestimmten Industrieprozessen hat das Feinstaubproblem gebannt. Zudem hat die Einführung von Dieselpartikelfiltern geholfen. Wobei nicht nur das Auto Feinstäube ausstößt. Wichtige technische Feinstaubquellen sind laut UBA Kraftwerke, Abfallverbrennungsanlagen, Heizungen in Wohnhäusern sowie Industrieabrieb. Aber auch die Landwirtschaft sowie natürliche Prozesse wie Wind, Vulkanausbrüche oder Erosion verursachen Feinstaub, der in Zusammenhang mit Lungenkrebs, Allergien, Demenz und Asthma gebracht wird und laut Schätzungen zusammen mit bodennahem Ozon in Deutschland 2010 für 34 000 vorzeitige Todesfälle sorgte.
- Wie genau wird eigentlich gemessen? Nach Auskunft der Landesanstalt für Umwelt (LUBW) werden die Messwerte jeder einzelnen Messstation für sich betrachtet. Das heißt, der etwa am Neckartor ermittelte Wert wird nicht mit anderswo gemessenen Werten verrechnet, um einen Durchschnitt zu bilden. Für Stickoxide ist der Jahresmittelwert einer Station entscheidend, für Feinstaub der Tagesmittelwert.
- Was macht die Lage derzeit so brisant? Die Diskussion um Fahrverbote hängt maßgeblich mit zu hohen Stickoxid-Werten (Nox) zusammen. Deutschland ist mit einem Netz von 500 Messstationen überzogen, von denen allerdings nur verkehrsnahe Gasfallen – etwa an Durchgangsstraßen – Überschreitungen des Jahresmittelwertes von 40 Mikrogramm aufweisen. Der Hauptverursacher der Spitzenwerte ist hier – anders als beim Feinstaub – der Verkehr. Insbesondere der Dieselmotor trägt mit 72,5 Prozent an den Gesamtemissionen den Löwenanteil der städtischen Belastung an dem besonders giftigen Stickstoffdioxid (NO2). Obwohl just der Verkehrssektor seine Nox-Emissionen nach UBA-Daten zwischen 1990 und 2016 um 60 Prozent gesenkt hat, wabert in der Stadtluft noch zu viel von diesem Gas.
- Wie gefährlich sind Stickoxide? Noxe und insbesondere Stickstoffdioxid gelten als Atemgifte mit erheblicher Wirkung auf die Gesundheit, die die Zahl der Krankheitstage nach oben treiben und allein in Deutschland für Tausende vorzeitige Todesfälle im Jahr verantwortlich sein sollen. Die Zahlen variieren je nach Studie. So beziffert die EU-Umweltagentur EEA die Zahl der vorzeitigen Todesfälle durch das stark giftige NO2 allein in Deutschland auf 12 860 bis 44 960. Das UBA ist zurückhaltender und spricht von 5966 vorzeitigen Sterbefällen.
- Gibt es wirklich vorzeitige Sterbefälle? In einer Stellungnahme zweifeln gut 100 Lungenärzte insbesondere die vorzeitigen Sterbefälle an. Sie begründen das praktisch. Bei den hohen Sterbezahlen müsste das Phänomen der Stickoxid-bedingten Todesfälle „irgendwo auffallen“, schreiben sie in ihrer Bewertung, die dem SÜDKURIER vorliegt. „Tote durch Feinstaub und Nox“ habe aber keiner der Unterzeichner „auch bei sorgfältiger Untersuchung“ jemals gesehen. Es sei daher „sehr wahrscheinlich“, dass die hohen Sterbeziffern einen „systematischen Fehler enthalten“, schreiben die Mediziner und konstatieren bei Nox und Feinstaub ein „völliges Fehlen eines Vergiftungsmusters“, wie es bei allen anderen Umweltgiften vorkomme.
- Welche Argumente haben die kritischen Lungenärzte? Als Kronzeugen für ihre These führen die Pneumologen die Raucher an. Starke Raucher hätten eine um etwa zehn Jahre verminderte Lebenserwartung. Gemessen an ihrer Feinstaub- und Nox-Aufnahme sei das ein gnädiges Schicksal, denn beim Rauchen setzten sie sich dem bis zu Eine-Million-fachen des Feinstaubgrenzwerts in Städten aus. Bei Nox verhalte es sich ähnlich. Wären die Luftschadstoffe wirklich so gefährlich, wie angenommen, „so müssten die meisten Raucher nach wenigen Monaten alle versterben“, schreiben die Mediziner um Dieter Köhler, vormaliger Präsident der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie (DGP). Da das nicht der Fall ist, könne man Nox und Feinstaub nicht für so viele Tote verantwortlich machen. Das tödliche Gift in den Zigaretten komme woanders her.
- Was sagt die Wissenschaftsgemeinde? Die kritischen Lungenärzte spüren Gegenwind. Die Evidenz, dass Feinstaub zu vorzeitigen Todesfällen führe, sei „außergewöhnlich groß“, sagt etwa Roy Harrison, Mitglied der Royal Society und Professor für Umweltmedizin in Birmingham. Für Stickoxide sei sie allerdings „geringer“. Nino Kuenzli, Präsident der Schweizer Kommission für Lufthygiene, sagte, „das sogenannte Positionspapier dieser Ärzte entbehrt jeglicher wissenschaftlicher Grundlage und argumentativer Kohärenz“. Allerdings wurde dieses Papier von 20 Professoren unterschrieben, die auf dem Gebiet der Lungenheilkunde arbeiten. Drei Experten auf der Liste sind keine Mediziner: Der Physiker und Aerosol-Experte Dieter Hochrainer, Thomas Koch, Motorenbauer und Professor in Karlsruhe (KIT) und Matthias Klingner, Professor am Fraunhofer-Institut für Verkehrssysteme in Dresden.
- Die Kritiker weisen auf höhere US-Grenzwerte hin. Wie hoch sind die? In den USA gibt es seit 1994 eine nationale Abgasnorm. Sie liegt jetzt bei 100 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft, also klar über dem EU-Grenzwert. Kalifornien macht die Ausnahme. Dort liegt der Grenzwert bei 61 Mikrogramm. Der für maximal eine Stunde geltende Wert liegt bei 36,5 Mikrogramm.