Rentenzeit ist Bücherzeit, sie sollte es jedenfalls sein. Endlich „Krieg und Frieden“ lesen oder die „Brüder Karamasow“! Alle diese russischen Wälzer, zu deren Lektüre niemand kommt, der mangels Lottogewinn einer geregelten Arbeit nachgehen muss. Manch ein Rentner soll noch am Abend seines letzten Arbeitstags mit Marcel Prousts 4500-Seiten-Monster „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ angefangen – und auf dem Sterbebett die letzten Zeilen gelesen haben.
Nicht immer ist solch zähe Lektüre dem Werk selbst geschuldet. Befremdlich oft lässt sich das Bekenntnis vernehmen, auch als Rentner fehle es zum Bücherlesen einfach an Zeit. Besonders gerne bringt diese Ausrede jenen Typus Ruheständler vor, der von anderen sehr wohl verlangt, dass sie sich für Bücher interessieren. Oder vielmehr für genau ein Buch: nämlich das, welches er gerade selbst schreibt.
Angela Merkel zum Beispiel hat für den kommenden Herbst ihre Memoiren angekündigt, der Klassiker aller Kanzlerrentner. Zu ihm gehört das Vorspiel mit demütigen Zweifeln und kokettem Zaudern. Memoiren? Nicht mit mir!
Erfundende Legenden
Er wolle „nicht der Versuchung unterliegen, meine eigene Rolle in allzu verklärtes Licht zu stellen“, übte sich Helmut Schmidt nach seiner Absetzung in hanseatischer Selbstdisziplin. Um dann nach und nach ein Lebensepos nach dem anderen auf den Markt zu werfen. Helmut Kohl war wild entschlossen, bloß keine Memoiren zu verfassen. Aber man rechnet ja nicht mit dem Undank der Welt: „Erfundene Legenden“ seien über ihn im Umlauf, klagte er später, „falsch und unwahr“, gar eine „unangemessene Kriminalisierung“. Dagegen muss man sich ja mit einem Bestseller zur Wehr setzen!
Merkel nun also wusste zunächst so gar nicht, wohin mit sich, wollte erstmal „sorgfältig nachdenken“ darüber, was sie nun anstellen soll mit ihrer Zeit. „Will ich schreiben, will ich sprechen, will ich wandern gehen, will ich zu Hause bleiben, will ich die Welt sehen?“ Ach nein, vorerst einfach nur „nichts tun“ und „sehen, was passiert“. Bemerkenswert, wie manche Leute mit Nichtstun hunderte Seiten füllen.
Ihr Vorgänger Gerhard Schröder war gerade mal ein Jahr aus dem Amt, da knallte er dem Publikum auch schon sein geballtes Politikerleben auf den Büchertisch. Helmut Kohl konnte sich ganze zwei Jahre bezähmen. Dagegen muten die dann drei Jahre politische Abstinenz der Angela Merkel wie eine Ewigkeit an.
Womit wir bei Franz Müntefering wären. Kanzler ist der zwar nie gewesen, dafür aber SPD-Vorsitzender und das ist bekanntlich das schönste Amt neben dem Papst. Auch er ist jetzt unter die Autoren gegangen, wenn auch nicht mit Memoiren. Vielmehr scheint es, als habe er etwas begriffen, was den Schmidts, Kohls und Schröders verborgen geblieben ist: dass der Ruhestand zu wertvoll ist, um ihn mit Richtigstellen, Rechthaben oder Nichtstun zu verbringen. Müntefering nämlich doziert nicht, er dichtet. Oder reimt jedenfalls, wie er es bescheiden nennt.
Seine Gründe dafür sind bestechend: weil Schreiben präziser ist als Sprechen, weil Reime Leichtigkeit bringen und Freude bereiten. Und weil präzises Denken, leichtes Fühlen, freudvolles Leben das Beste ist, was man sich vom Alter erhoffen kann. Möge sich Olaf Scholz als Altkanzler ein Beispiel nehmen.