Nach „hundert Jahren großartiger Geschichte“ soll es bei den Donaueschinger Musiktagen einen „Generationen- und Blickwechsel“ geben. So jedenfalls formulierte es die SWR-Programmdirektorin Anke Mai und steckte dabei bereits die Erwartungen ab, die der Sender als zentraler Mitveranstalter an die neue Leiterin der Donaueschinger Musiktage hat. Diese lenke den Blick auf den digitalen Raum und werde auch das in Donaueschingen stark vertretene junge Publikum „neu ansprechen“, so Mai.
Seit März ist Lydia Rilling nun im Amt. Als künstlerische Leiterin von Rainy Days, einem noch vergleichsweise jungen Festival für zeitgenössische Musik in Luxemburg, hat sich die 42-Jährige einen Namen gemacht. Nun gab sie bekannt, wie sie sich die Ausrichtung der Donaueschinger Musiktage ab 2023 vorstellt. Ab dann wird sie das Programm verantworten. Der diesjährige Jahrgang (13. bis 16. Oktober) ist noch vollständig von Björn Gottstein geplant worden.
Vorbild documenta
Das zentrale Prinzip ihrer Konzeption beschreibt Rilling mit dem englischen Wortpaar „connect and expand“ – sie möchte „Verbindungen herstellen und das Festival erweitern“, und zwar „künstlerisch, inhaltlich, medial und geografisch“. Was genau sie darunter versteht, verdeutlichte sie anhand einiger Leitlinien. Dazu gehört, dass die Musiktage ab 2023 ein thematisch kuratiertes Festival werden. Jede Ausgabe steht unter einem Thema bzw. einer Fragestellung mit künstlerischer und gesellschaftlicher Relevanz. Ein Vorbild sieht sie in der Bildenden Kunst: „Dramaturgisch kohärente Programme sollen die interessantesten und originellsten Stimmen zu einer bestimmten Thematik versammeln, ein bisschen so, wie das auch die documenta für die Bildende Kunst macht.“
Erweiterung in den virtuellen Raum
Weiterhin sollen die Musiktage in den virtuellen Raum erweitert werden, und zwar durch „Aufträge für Kunstwerke, die dezidiert für diesen Raum geschaffen werden“. Gerade die Pandemie habe deutlich gemacht, „dass gerade im Hinblick auf die zeitgenössische Musik das Potenzial, das dieser virtuelle Raum bietet, zum Großteil noch zu entdecken ist.“
Das bedeute allerdings nicht, dass die Musiktage ins Virtuelle verlegt werden. „Die Musiktage sind ein Festival vor Ort, das sollen sie unbedingt bleiben. Darin liegt eine ihrer besonderen Qualität. Donaueschingen ist auch ein soziales Ereignis und ein Ort der Begegnung.“ Wie die Eroberung des virtuellen Raums und das Bekenntnis zum Präsenzfestival miteinander vereinbar sind, bleibt eine der spannenden Fragen.
Kooperation mit anderen Institutionen
Verschiedentlich erwähnt Rilling die verstärkte Zusammenarbeit mit anderen Kulturbereichen und Institutionen. Offenbar geht es ihr dabei nicht bloß um eine Verteilung finanzieller Lasten auf mehrere Schultern, sondern um eine inhaltliche Einbettung der Musiktage in den Kontext weiterer kultureller Veranstaltungen und Institutionen, die sich ebenfalls mit Aspekten des Donaueschinger Generalthemas befassen – etwa in Workshops oder Konferenzen.
Wichtig sind Rilling „Dekolonisierung und Diversifizierung“ – etwas, woran auch schon ihrem Vorgänger Björn Gottstein viel lag. Während jedoch die Musiktage zu ihrem 100. Bestehen im vergangenen Jahr einen Schwerpunkt mit dem Titel „Donaueschingen Global“ ausgerufen hatten, bei dem es um Diversität und das Postkoloniale ging und in dem Musik vor allem aus nicht-europäischen Ländern zu hören war, möchte Rilling solche künstlerische Stimmen „ohne spezielles Labeling“ zu einem selbstverständlichen Teil der Programme machen. Dass es dabei etwa auch um mehr komponierende Frauen im Programm geht, versteht sich quasi von selbst.
Weg vom Szene-Charakter
Als Versuch, Trennlinien durchlässig zu machen und der Neuen Musik, die häufig noch als abgeschottete Spezialkunst wahrgenommen wird, etwas von ihrem Szene-Charakter zu nehmen, darf die Ankündigung verstanden werden, erstens die Trennung des Jazzkonzerts vom übrigen Donaueschinger Programm aufzuheben; zweitens aber auch Musiker und Musikerinnen nach Donaueschingen einzuladen, die hier noch nie aufgetreten sind, obwohl sie im Bereich der Klassik als Botschafter der zeitgenössischen Musik gelten. Rilling nannte hier beispielhaft den Namen der Bratschistin Tabea Zimmermann – freilich ohne dies als Ankündigung verstanden haben zu wollen.
Schließlich möchte sich Rilling dafür einsetzen, dass insbesondere die Orchesterwerke „mit ihrer Uraufführung in Donaueschingen nicht auch schon ihre letzte Aufführung erlebt haben“, wie es sonst häufig der Fall ist. Auch hier lautet das Zauberwort wieder: Kooperation und Zusammenarbeit mit anderen Partnern.
100-jährige Geschichte neu betrachten
Dass Rilling außer Kuratorin und Journalistin auch Musikwissenschaftlerin ist, kommt in ihrer Idee zum Tragen, mit einem „Open Call“ an Künstler „einen neuen künstlerischen Blick auf die Geschichte des Festivals“ anzuregen und sich mit dem umfangreichen Archiv des Festivals zu beschäftigen. Dahinter steht die Beobachtung, dass immer dann wenn es um die hundertjährige Festivalgeschichte geht, „es einen auffällig kleinen Kreis an Komponistennamen gibt“, der dabei „immer wieder“ genannt werde. Dabei biete die Festivalgeschichte von 100 Jahren sehr viel mehr.
Mit ihrem „Open Call“ geht es ihr also darum, „den Blick auf das Festival zu weiten auf das, was interessant war, aber auch auf das, was vergessen wurde – auf die Vielfalt, die vielleicht im historischen Blick verloren gegangen ist“, um das Ganze in ein neues Kunstwerk münden zu lassen.
Es ist viel, was sich die neue Leiterin hier vorgenommen hat. Und dass „ein umfangreiches Programm viele Fördertöpfe benötigt“ und ergo „ein nicht unwesentlicher Teil“ ihrer Arbeit darin liegen wird, solche zu erschließen, ist ihr bewusst. Nun aber geht Rilling Mitte April erst einmal für ein paar Monate in Elternzeit. Die Organisation des Festivals im Oktober 2022 übernehme Eva-Maria Müller. Dann komme sie „rechtzeitig zurück“, damit alles für 2023 weitergehen kann.