Wo kann man seine Aufnahmen sicher unterbringen und der Öffentlichkeit auch posthum noch zugänglich machen? Das ist eine Frage, die sich viele Fotografen und ihre Nachkommen stellen. Noch immer geraten lebenslang erarbeitete fotografische Werke nach dem Tod ihrer Schöpfer in Vergessenheit oder werden entsorgt.
Der Nachlass von Toni Schneiders ist diesem Schicksal entkommen. Dank der Bemühungen seiner Tochter, der Fotografin Ulrike Schneiders, befindet sich sein Archiv seit 10 Jahren in der Stiftung F.C. Gundlach in Hamburg. Die Stiftung, die 2000 von dem renommierten Modefotografen F.C. Gundlach gegründet wurde, widmet sich der Förderung von Kunst und Kultur sowie Wissenschaft und Forschung auf dem Gebiet der Fotografie; übernommene Nachlässe werden akribisch aufgearbeitet, sachgerecht gelagert und mit Ausstellungen und Publikationen vor dem Vergessen bewahrt. Die aktuelle Ausstellung im Kunstmuseum Singen ist ein Beispiel dafür.
Anlässlich des 100. Geburtstages von Schneiders 2020 entstand in enger Zusammenarbeit mit Museumsleiter Christoph Bauer eine großangelegte Schau, die das facettenreiche Schaffen des wegweisenden deutschen Nachkriegsfotografen in rund 250 Aufnahmen verdeutlicht. Pandemiebedingt wird sie zwei Jahre später präsentiert.

„Schaut her!“ lautet der Titel der Ausstellung. Doch dazu muss man nicht aufgefordert werden, denn die Fotografien ziehen die Besucher in den Bann, unterstützt durch eine gelungene Anordnung der Exponate. Gleich am Eingang stößt man auf Bilder wie „Unheimliches Nest“, dessen Einschlüsse im Eis an geheimnisvolle Kleinlebewesen erinnern oder „Balkenschrift im Wasser“, die eine Uferbebauung im mondbeschienenen Meersburger Fährhafen in japanische Schriftzeichen verwandelt, oder „Spiegelnde Scheiben“, in denen der Mensch hinter dem Fenster durch die mächtigen Spiegeleffekte zur Silhouette verblasst.
Weniger verrätselt, aber nicht minder eindrucksvoll ist die Aufnahme von „Heinz Hajek-Halke“, die den Berliner Freund und Kollegen, der damals in Wasserburg lebte, in seiner ganzen Vitalität wiedergibt, oder „Wartende Frau“, die eine in sich gekehrte ältere Frau am Rande eines Zugfensters zeigt, über dessen Scheibe der Regen schräge Streifen zieht.

Es sind Bilder, die zu Klassikern der modernen Fotografie geworden sind. Sie entstammen den ersten Nachkriegsjahren und wurden bereits 1950 mit immensem Erfolg auf der neugegründeten Weltfotomesse „photokina“ in Köln gezeigt. Schneiders gehörte damals zu den sogenannten „wilden Männern“, die sich zu der kleinen Avantgarde-Gruppe „fotoform“ zusammengeschlossen hatten, um gegen die biedermeierliche Heimatfotografie, die kulturelle Barbarei der NS-Zeit und den Konservatismus nach 1945 anzutreten. Der Zusammenschluss des legendären Zirkels diente auch der gegenseitigen Hilfe und Anregung bei fotografischen Themenstellungen.
Die Arbeiten waren – heute schwer vorstellbar – eine Provokation. Der damaligen Kamerakunst bot „fotoform“ durch ein unablässiges Laborieren mit Inhalt und Form neue Perspektiven und schuf die Basis, für die breiter aufgestellte, international bedeutsame Strömung der individuellen, die Wirklichkeit nicht abbildenden, sondern deutenden „subjektiven Fotografie“. Wie „fotoform“ orientierte sie sich an der experimentellen und neusachlichen Ästhetik der 1920er-Jahre.
Schneiders war jedoch Individualist und folgte keiner Doktrin. Statt Dunkelkammertechniken bevorzugte er es, die Motive mit Ausschnitt, Perspektive und gekonnter Lichtregie zu abstrahieren. Es war ihm wichtig, das Konkrete gestalterisch umzusetzen, auch in seinen stark verfremdeten Bildern lässt sich der Gegenstand meist erschließen. Momentaufnahmen zog er Arrangiertem vor. Schnell und sicher konnte er einen Augenblick festhalten und seine expressiven Porträts sind voller Empathie. Und noch etwas war dem Kamerameister ein Anliegen: Er wollte Melancholie und Humor visualisieren – beispielhaft seine Serie „Zeitungsleser“, die in Singen eine ganze Wand füllt. Es heißt ja, Schneiders saß der Schalk im Nacken.
Es ist nicht die erste Ausstellung von Toni Schneiders in Singen. Bereits 2006 wurde eine reizvolle Auswahl präsentiert, doch der Fokus lag auf den freien, ikonischen Bildern. Nach der Erschließung des Werkes durch die Stiftung wird – abgesehen von seinem Farbwerk – nun ein erweiterter Blick auf Schneiders‘ Schaffen gelegt, der seine Aufnahmen vor 1949 sowie sein Standbein als Reise- und Bildnisfotograf beleuchtet. Rund 200 Bildbände hat er mit seinen Fotografien bestückt, viele davon ausschließlich.
Die Reisebilder führten ihn durch weite Teile Europas, nach Japan, Asien und Afrika. Dabei konzentrierte er sich auf das Charakteristische der Menschen und Länder und behielt auch hier seine virtuose Bildfindung mit ausgefeilten Strukturen und starken Hell- und Dunkelkontrasten bei. Die aktuelle Schau legt zudem ein Augenmerk auf die langjährige Beziehung zu dem Freund Julius Bissier. Der bekannte Maler machte den jüngeren Schneiders mit moderner Kunst vertraut und ermutigte ihn im formbetonten Schaffen, während Schneiders Bissier, der selbst studienhalber Strukturen in der Natur fotografierte, in Sachen Fototechnik beriet.
Mit „Schaut her!“ möchte Museumsleiter Bauer auch eine weitere Lanze für die Fotografie brechen. 2002 hat er mit zwei anderen Museen in Deutschland und der Schweiz und der Gruppe Fotografie am Bodensee die erste Überblicksschau zur Fotografie des Vierländerecks im 20. Jahrhundert erarbeitet und festgestellt, um welch unzulänglich erforschtes Feld es sich handelte. Leider, so Bauer, gleicht die heutige Lage der damaligen. Die sehenswerte Schau macht Lust, weitere weiße Flecken der Bodenseefotografie zu erkunden.
„Schaut her! Toni Schneiders“: Bis 18. September im Kunstmuseum Singen, Di-Fr 14-18 Uhr, Sa-So 11-17 Uhr. Begleitprogramm:http://www.kunstmuseum-singen.de