Wer vor zweihundert Jahren ein Porträtbild von sich haben wollte, musste sich mit einem Künstler ins Benehmen setzen. Nur die wenigsten freilich konnten sich ein gemaltes Bildnis leisten. Erst mit der Erfindung der Fotografie in der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde ein Porträtbild (das immer auch so etwas wie ein Stückchen Unsterblichkeit bedeutete) für die meisten erschwinglich. Heute kann jedes Kind mit der Handykamera ein Selbstporträt oder Selfie machen. Es kostet nicht einmal etwas.
Fernrohr in die Vergangenheit
So ändern sich die Zeiten. Die umwälzende Technik eignete sich natürlich nicht nur für Porträts. Die Fotografie war – und ist – das realistische Dokumentationsmedium schlechthin. Und so funktionieren die Fotografien von Gottlieb Theodor Hase im Haus der Graphischen Sammlung, die bereits ab März zu sehen sein sollten und Corona-bedingt erst jetzt gezeigt werden können, wie ein Fernrohr in eine vergangene Zeit.

Der Besucher tritt eine Zeitreise an in eine Epoche, als Kameras noch mehrere Kilo wogen wie die hinter Glas präsentierte, vergleichsweise kleine und leichte Plattenkamera: eine um 1880 in Deutschland gefertigte Reisekamera. Wer sich für frühe Fototechnik interessiert, dürfte auch Freude an der Schiebekastenkamera aus dem Jahr 1843 haben. Nur vier Jahre zuvor, 1839, hatte sich die älteste Form der Fotografie, die Daguerreotypie, von Frankreich ausgehend verbreitet.
Unterwegs als „Daguerreotypist“
Eine solche Kamera hat wohl auch der junge Fotograf Gottlieb Theodor Hase benutzt. Der aus Erfurt stammende „Daguerreotypist“, wie er sich in einer frühen Berufsangabe nannte, hatte eine Ausbildung zum Porträtmaler genossen und auf die neue Technik umgesattelt.
Als Wanderfotograf kam er in Städte wie Würzburg und Bayreuth, Baden-Baden und Offenburg. 1852 ließ er sich in Freiburg nieder. Dort hatte er Liebe und berufliches Glück gefunden: Die Heirat mit der Tochter eines badischen Staatsbeamten 1847 öffnete ihm beruflich so manche Tür.

Der braunstichige Charme der frühen Fotografie verleiht den rund 70 Aufnahmen den Reiz von Preziosen. Neben Porträtbildern sind vor allem Stadt- und Landschaftsaufnahmen des Südschwarzwalds zu sehen, frühe Freiburg-Ansichten zumal. Straßenzüge und Gebäude der traditionsreichen Universitätsstadt gelangen ins Bild – auch das Münster, in der womöglich ältesten, auf die Zeit vor 1855 datierten Aufnahme überhaupt, vom Schlossberg aus gesehen.
Aufregend neues Bild
Man könnte Hase so als frühen Porträtisten Freiburgs bezeichnen. Schwabentor und Martinstor, das Palais Sickingen oder den Bertoldsbrunnen in seiner ursprünglichen Gestalt mit achteckiger Brunnenschale: Dies und vieles mehr hat er in ästhetisch reizvollen Aufnahmen abgelichtet. Das Haus zum Schönen Eck oder heutige Wentzingerhaus, Sitz des Museums für Stadtgeschichte, darf nicht fehlen: Museumsleiter Peter Kalchthaler hat die Schau mit dem Archivar Dargleff Jahnke konzipiert.

Die Ausstellung vermittelt ein weithin unbekanntes und darin aufregend neues Bild vom Freiburg vergangener Tage. Nicht nur sind längst viele der abgebildeten Gebäude dem Abriss oder dem Bombenhagel im Zweiten Weltkrieg zum Opfer gefallen. Die Aufnahmen führen in eine Zeit, in der man noch so etwas wie Beschaulichkeit kannte, Ruhe und Gelassenheit: Dinge, die uns heute ein gefährliches Virus wieder zur Lernaufgabe macht.
Hektik war ein Fremdwort
Die sprichwörtliche gute alte Zeit: Hektik war ein Fremdwort, wie nicht nur verschiedene Aufnahmen mit Pferde- und Ochsenfuhrwerken mitten in einer weitgehend menschenleeren Innenstadt vermuten lassen. Wo die Kamera eine belebte Szene einfängt, haben die Menschen Muße, innezuhalten und den Fotografen – den Beobachter – zu beobachten.

In einer um 1860 entstandenen Aufnahme halten zwei städtische, in Mänteln gekleidete Bürger in der Nachmittagssonne ein Pläuschchen am Bertoldsbrunnen, dem zentralen Platz der Stadt. Eine Szene von biedermeierlicher Idyllik, in der es aber zugleich auch „spukt“: Rechts von dem Hund und im Hintergrund sind so genannte „Geistererscheinungen“ erkennbar. So heißen in frühen Fotografien Menschen und Tiere, die sich während der langen Belichtungszeit aus dem Bild bewegten und deshalb nur schemenhaft sichtbar sind. Im konkreten Fall sind es schon die gespenstischen Vorboten moderner Großstadthektik.
Haus der Graphischen Sammlung, Salzstraße 32, Freiburg. Bis 27. September (nicht von 29.6.-3.7.), Di bis So 10-17 Uhr.