Darf man sich über Menschen ärgern, die entgegen wissenschaftlichem Rat und offizieller Anweisung gruppenweise vor Cafés sitzen und einander anhusten? Die mit ihrer öffentlich zur Schau gestellten Gewissenlosigkeit buchstäblich um die Verhängung einer Ausgangssperre für uns alle betteln? Der erste Impuls: Ja selbstverständlich, setzen solche Leute doch das Leben anderer Menschen aufs Spiel!
Moralische Haarspalter
Wer so denkt, rechnet nicht mit den moralischen Haarspaltern aus der politisch überkorrekten Ecke. Der prominente Blogger Sascha Lobo erklärt uns, wer bei solcher Kritik als Diskriminierungsopfer unter die Räder geraten könnte: Verkäuferinnen im Einzelhandel, die doch nur mal mit ihrem Kind eine halbe Stunde im Park durchschnaufen wollen.
„Klassistisch“ sei Kritik an deren Verhalten, also abwertend gegenüber Menschen vermeintlich niedrigerer sozialer Herkunft. Zumal, wenn sie aus dem Mund des Wohlstandsbürgers mit Eigenheim kommt. Ja, mit Garten lassen sich die Einschränkungen unseres Alltags natürlich leichter ertragen als in einer Hochhaussiedlung!
Klingt schlüssig. Allein: Gilt unser Ärger wirklich gestressten Verkäuferinnen, die mal eben eine Pause brauchen? Wohl kaum.
Wenn sich tausende Skifahrer zum Saisonabschluss auf der Zugspitze treffen, um dichtgedrängt in Berghütten aufs schöne Wetter anzustoßen, dürften darunter nur wenige erholungsbedürftige Supermarktangestellte zu finden sein. Die haben zurzeit besseres zu tun. Vielmehr begegnen wird dort der privilegierten Oberschicht. Leuten wie Sascha Lobo.
Es verhält sich nämlich genau anders herum: Kassiererinnen, Krankenpfleger und Polizeibeamte, die zum regelmäßigen Kunden-, Patienten- und Bürgerkontakt gezwungen sind, ärgern sich über ignorante Besserverdiener. Über Leute, die genügend Zeit und Geld haben, sich werktags gemeinsam am Bodenseeufer zu sonnen oder auf Skifreizeit zu gehen – ungeachtet aller Appelle, wenigstens mal für eine Woche persönliche Bedürfnisse zurückzustellen.
Schräge Logik
Bezeichnend an dieser Suche nach Spurenelementen von Diskriminierung ist, welche Alltagsferne, ja welcher Klassismus in ihr zum Ausdruck kommt: Ausgerechnet die selbsternannten Experten in Sachen Klassismus-Früherkennung offenbaren eine Abgehobenheit, die staunen lässt. In ihrer Logik wird die Verweigerung von Gendersternchen zum dringlicheren Problem als lebensgefährdendes Verhalten in Krisensituationen.
Es ist nicht so, dass ihnen die Absurdität der Argumentation sowie deren frappierende Nähe zum rechtsreaktionären Konzept der Hypermoral verborgen bliebe. Lobo redet sich damit heraus, seine Kritik gelte ja nicht unserer Moral, sondern einer „Vernunftpanik“: der „überdrehten Stufe von tatsächlich sinnvollem Handeln“. Wenn Vernunft bedeute, ein brennendes Haus zu löschen, so heiße Vernunftpanik, „sicherheitshalber auch einen Stausee um das Haus zu fluten“.
Exakt darum geht es: Lieber scheinbar übertrieben viele Menschen isolieren als nur jene, die auch wirklich infiziert sind. Oder eben: Lieber zusätzlich einen Stausee fluten, als nur das Haus löschen. Wer das Vernunftpanik nennt, hat nichts, aber auch gar nichts verstanden.