Die Wunder- oder Kunstkammern des Barock sind aus den früheren Raritäten- oder Kuriositätenkabinette hervor gegangen. Ein Meister der Präsentation solcher Kammern im 20. Jahrhundert war Harald Szeemann. Keiner wie er, heißt es über den Kurator, konnte Kultur, Historie, Kunst und Kitsch zu einem solchen Ganzen fügen, das skurril und wahr, verrückt, erhellend, verzaubernd, verstörend zugleich war. Das Archiv war die Keimzelle seiner Ausstellungen, die immer auch Inszenierungen mit eigener Dramaturgie und Welterklärungsanspruch waren.
Mit Basel hatte der gebürtige Berner wenig zu tun. Aber Szeemanns Ruhm erreichte auch die Stadt am Rheinknie und damit seine Vorstellung von einem Gesamtkunstwerk. Vor diesem Hintergrund sollte die Ausstellung „Basel Shorts Stories“ im Kunstmuseum Basel betrachtet werden, die der Direktor des Hauses, Josef Helfenstein, auf den Weg brachte. Mit ihr beleuchtet er auf Basis der Sammlung in neun „Kurzerzählungen“ Facetten der Stadtgeschichte – und viel mehr.
Helfenstein geht mit seinen „Short Stories“ vorwärts zurück in die Geschichte der Stadt, bis Erasmus von Rotterdam. Der bedeutendste europäische Humanist des 16. Jahrhunderts lebte bekanntlich viele Jahre in Basel, dort starb er auch 1536. Er war ein gelehrter, aber auch ein eitler Mann, der sich gerne und am liebsten von Hans Holbein d.J. porträtieren ließ, der 1520 Bürger von Basel wurde.
Auch dem polyglotten Maler – er starb 1543 in London – hat Helfenstein eine eigene Erzählung gewidmet und dazu den „Toten Christus im Grab“ (1521/22) ausgewählt. Das Werk ist eine Ikone der Sammlung, vor der der Dichter Fjodor M. Dostojewski während eines 1867 erfolgten Besuchs schockiert zusammenbrach. Aber damit nicht genug. Der „Tote Christus“ wird neben Bildern Ferdinand Hodlers von seiner sterbenden Geliebten Valentine Godé-Darel gehängt (1915), die das Holbein-Bild zum Vorbild hatten, sowie Werke des Basler und Symbolisten Arnold Böcklin, einer der großen Künstler des 19. Jahrhunderts mit dem schönen Beinamen „Shakespeare der Malkunst“.
Erasmus und Holbein sind Teil des Bildungskanons, dazu gehört auch Friedrich Nietzsche, ursprünglich preußischer Staatsbürger, der seit seiner Übersiedlung 1869 nach Basel staatenlos war. Ihn feiert die Ausstellung mit Bildern von Böcklin („Die Toteninsel“, 1890), der auch einem anderen großen Basler eng verbunden war, nämlich dem Kunsthistoriker Jacob Burckhardt, dem ebenfalls ein Erzählstrang der Ausstellung gilt. Aber auch Zeitgenössisches ist zu finden: eine freche Bildfindung von Johannes Grützke („Böcklin, Bachofen, Burckhardt und Nietzsche auf der mittleren Rheinbrücke in Basel“, 1970) während der Schweizer Not Vital eine Skulptur aus rotem Wachs beisteuert: „Nietzsches Schnauz“ (2017). Mindestens so eindrucksvoll wie der Schnauz ist sein den Saal ausfüllender Teppich: die massstabsgetreue Vergößerung des Tischtuchs, auf dem Nietzsche gearbeitet hat, Kaffeflecken inklusive.
Es gehört zu den sympathischen Eigenwilligkeiten dieser Retrospektive, dass sie den berühmten und/oder berüchtigten Protagonisten kaum mehr Platz einräumt, als den Alltagshelden, den kleinen Meistern und/oder verschrobenen Geistern. Zur letzteren Gruppe gehören die Basler Vorstädter Werner Goeblin und Hansruedi Mauch, die in den 1930er Jahren als „Slapstick on Ice“ unter dem Künstlernamen „Frick und Frack“ sogar in Amerika eine großen Nummer waren. Ein Filmausschnitt dokumentiert ihre kalte Kunst, Werke von Max Beckmann und Ernst Ludwig Kirchner thematisieren das Schlittschuhlaufen und die Akrobatik, während Paul Klee das Clowneske rühmt. Oberoriginell: die handgearbeiteten „Schlittschuhe“ von Robert Gober (1997/98).
„Slapstick on Ice“ ist eine überraschende und geglückte Erinnerungsarbeit. So wie die Erzählung über die vergessene Basler Anwältin und Autorin Iris von Roten, die 1958 mit „Frauen im Laufgitter“ ein scharfsinniges Buch über die Diskriminierung der Frau im Berufsleben, in der Ehe und in der Sexualität veröffentlichte und sich damit selbst bei den Eidgenossinen unbeliebt machte. Nach vernichtenden Kritiken wandte sie sich von der Frauenfrage ganz ab und begann Blumen- und Landschaftsbilder zu malen. Helfenstein stellt ihr an die Seite Werke von Katharina Fritsch, Maria Lassnig und Martha Rössler. In Basel entstandene Video-Arbeiten von Pipilotti Rist öffnen einen Hommage-artigen Dialog mit den Schriften von Rotens und den Blumenstillleben.
Helfenstein hat tief ins Archiv hineingesehen und -gehört, um solche und weitere Querverbindungen und Entdeckungen zu liefern. Erwähnenswert sind in dem Zusammenhang die Spuren, die er zum Basler Friedenkongress 1912 legt (damit sollte der Erste Weltkrieg verhindert werden) und das Narrativ über die Naturforscherin Maria Sibylla Merian, Tochter des Basler Kupferstechers Matthäus Merian der Ältere; ihr kolossales Hauptwerk „Metamorphosis insectorum Surinamensium“ (1705) ist Teil der Ausstellung. Silvia Bächli, in Basel lebende Karlsruher Kunst-Professorin, hat Merians Werken eigene Zeichnungen gegenübergestellt, aber auch Bilder von Warhol und Hans Arp nähern sich ihrer Pflanzen- und Insektenwelt.
Mit Pflanzen im weitesten Sinne hat auch der Saal über den Basler Chemiker Albert Hofmann zu tun, der aus dem Getreidepilz Mutterkorn das Halluzinogen LSD synthetisiert hat. Ergänzend zum Thema gibt es diverse Bildangebote, aber auch eine Tonstation mit psychodelischer Musik von Burdon, Hendrix, Pink Floyd & Co. Unbedingt reinhören!
Jeder Saal „erzählt“ mit seinem interdisziplinären Ansatz und jenseits der kanonisierten Kunstgeschichte gleichsam eigene „Stories“. Diese welthaltige Lektüre braucht ihre Zeit. Für eine Nachbetrachtung ist der Katalog hilfreich, der auch Anekdoten jenseits ihrer kunsthistorischen Einordnung bereithält.
„Basel Short Stories“. Kunstmuseum Basel. St. Alban Graben 20. Bis 21. Mai. Öffnungszeiten: Di bis So 10-18 Uhr, Do 10- 20 Uhr. (19. – 21. Februar geschlossen). Katalog 36 SFR. Weitere Informationen gibt es im Internet unter:http://www.kunstmuseumbasel.ch