Alles geht, immer und überall, zumindest solange man online ist. Man kann alles haben, alles lesen, alles sehen und hören. Es gibt einen permanenten Nachrichten-Strom, Twitter, soziale Netzwerke, endlose Shopping-Möglichkeiten, Film-Streamingdienste und Musikportale mit Millionen Songs. Arcade Fire stehen diesen unbegrenzten Möglichkeiten ganz offensichtlich mit bestenfalls gemischten Gefühlen gegenüber – das klingt im Titel ihres Albums „Everything Now“ an und bestätigt sich beim Hören der Songs. Doch so skeptisch die kanadische Band um das Ehepaar Win Butler und Régine Chassagne mitunter die Entwicklung in der digitalen Welt sieht, so offen ist sie, wenn es darum geht, das eigene Sound-Universum um neue Einflüsse zu erweitern.

Jedes neue Werk klingt anders – und wie anders das bei ihrer ersten Arbeit seit fast vier Jahren der Fall ist, das wurde schon mit der Veröffentlichung der ersten Single klar: Der Titeltrack kommt als euphorischer Pop inklusive Panflöten und jubilierender Chöre daher und klingt dabei sehr nach Abba. Die Vorliebe für Disco kam schon zuletzt auf „Reflektor“ durch und spiegelt nun auch nur eine Facette wider. Vielmehr streckt die Band ihre Fühler noch weiter aus und entfernt sich sehr furchtlos ein ganzes Stück weiter vom Indie-Folk-Rock, mit dem sie auf ihrem Debüt „Funeral“ bereits vor 13 Jahren Musik-Fans weltweit in Euphorie versetzte.

Inwiefern Arcade Fire noch eine Indie-Band sind, sei zwar dahingestellt, füllen sie doch seit Jahren auf ihren Touren ganze Stadien. Einen gewissen Eigensinn in ihrer Musik und in ihren Auftritten haben sie sich aber bewahrt, das ist auch dieses Mal klar. Mit Steve Mackey von Pulp und Thomas Bangalter von Daft Punk als Produzenten, streifen sie durch vergangene Jahrzehnte von den 1960ern bis in die 80er-Jahre und lassen sich mit fetten Bassläufen treiben von New Wave zu Pop zu Funk. Es gibt seltsamen Reggae, nochmal etwas Abba in „Put Your Money On Me“, und das Stück, das Chassagne ganz allein gehört, ist mit dem in piepsig höchsten Tonlagen gesungenen „Electric Blue“ ein cooles Stück Elektronika.

Fast alles ist sehr tanzbar, trotz der teils verfinsterten Texte, was mitunter einen irritierenden Kontrast erzeugt: „Creature Comforts“ etwa verpackt die gesellschaftskritischen Zeilen über Selbstmord, Aufmerksamkeitssucht und fehlgeleitete Schönheitsideale bei Jugendlichen in recht euphorische Musik mitsamt stadiontauglicher Mitsing-Möglichkeiten. Dieser Song und „Everything Now“ sind dabei im Grunde die einzigen Stücke, die nach gewisser epischer Größe streben und auf den Bombast schielen, den Arcade Fire auf der Bühne immer noch zelebrieren.

Trotz allem wirkt „Everything Now“ für Arcade-Fire-Verhältnisse nicht sonderlich opulent. Neben den vier ausgekoppelten Singles gibt es im Grunde nur fünf weitere Stücke – sieht man von zwei kurzen Reprisen des Titeltracks ab und dem nur knapp eine Minute und 40 Sekunden langen „Infinite Content“, das in zwei Versionen aufbereitet wird: einmal lärmend punkig, einmal im träumerischen Country-Trott.

Dabei hat „Everything Now“ nicht nur einen stärkeren Songsammlungs-Charakter als andere Alben, die trotz unterschiedlicher Stile geschlossener wirkten. Auch wer hofft, dass Arcade Fire nach wie vor den Willen zur emotionalen Überwältigung haben, braucht etwas Geduld. Aber: Zum Ende gibt es ihn mit „We Don’t Deserve Love“ doch noch, diesen Song, der sich ins Herz schleicht und auf ganz typische Weise ergreift. Es mag daher schwierig sein, „Everything Now“ so innig zu lieben wie die Alben „Funeral“ oder „The Suburbs“. Ein ambitioniertes Unterfangen, voller guter Ideen im Glitzerlicht der Discokugel, ist es aber allemal.