Es ist schwer zu begreifen, dass etwas, das so schmerzt, gut für meinen Körper sein soll. „Ihr dürft ruhig jammern“, sagt Ute Schlieper, Pilates- und Faszientrainerin im Fitnesspark Pfitzenmeier. Kaum ausgesprochen, ertönt lautes Stöhnen, Seufzen und Ächzen von allen Teilnehmern des Faszien-Workshops. Mit gequältem Gesicht rolle ich von meiner Rolle. Es steht fest: Meine Faszien sind verklebt. Dabei wurde ihre Bedeutsamkeit fürs Körperwohlbefinden erst in den letzten Jahren festgestellt.
Faszien umhüllen unsere Muskeln, jedes einzelne Muskelfaserbündel und jede Muskelzelle. Sie verbinden den Muskel mit dem Knochen und den benachbarten Muskeln. Sie bilden stützende Bindegewebsplatten, unterteilen den Körper in ein Labyrinth von Hüllen und Kammern – wie ein dreidimensionales Spannungsnetz, das Muskeln, Knochen, Organen, Nerven und Gehirn Halt und Orientierung gibt und als Stoßdämpfer dient.
Wie konnte etwas, das solche vielfältigen Aufgaben in unserem Körper übernimmt, bislang in der Medizin so vernachlässigt werden? Das mag daran liegen, dass alle bisherigen bildgebenden Verfahren, wie Röntgengerät und MRT die Faszien nicht adäquat abbilden konnten. Seit es aber mit einem neuartigen hochauflösenden Ultraschallgerät gelingt, das Bindegewebe sichtbar und präzise messbar zu machen, gewinnt es in der Forschung ebenso wie in der Schmerztherapie immer mehr an Bedeutung.
Einfluss auf Erkrankungen des Bewegungsapparates
Unser körperliches Wohlbefinden steht nicht nur maßgeblich mit den Faszien in Zusammenhang, sondern sie haben auch einen großen Einfluss auf Rückenleiden und weitere Erkrankungen des Bewegungsapparates. Humanbiologe Dr. Robert Schleip, der maßgeblich die Faszienforschung in Deutschland seit 2003 vorangetrieben hat, sieht in den Faszien sogar unser wichtigstes Sinnesorgan, weil sie mit zahlreichen Nervenendigungen durchsetzt sind und direkt auf das vegetative Nervensystem einwirken.
Schon in der jahrtausendealten Heilmethode des Akupunktierens spielte das Bindegewebe eine bedeutende Rolle. Dass Akupunktur bei Rücken-, Knie- und Kopfschmerzen erfolgreich ist, wurde in verschiedenen Studien belegt. Deshalb zahlen heute viele Kassen für Akupunktur-Therapien. Doch das ganzheitlich-energetische Denken war in der analytischen Welt der westlichen Naturwissenschaft nur wenig akzeptiert, denn es fehlte der wissenschaftliche Zusammenhang. Bis die Neurologin Helene Langevin von der Universität in Vermont der biomechanischen Wirkung von Akupunktureinstichen ins Gewebe nachging. Sie fand, dass sich das Gewebe rund um die rotierenden Nadeln fester band und somit mehr Energie nötig war, diese wieder zu entfernen. Dieser Effekt war besonders groß an den traditio nellen chinesischen Akupunkturpunkten, die wiederum in wichtigen Faszien-Vernetzungsgebieten lagen.
Auch die manuelle Therapie erscheint heute in einem neuen Licht. Osteopathen oder auch einige Therapeuten im Profisport, wie zum Beispiel Klaus Eder beim Deutschen Fußballbund, heilten in der Vergangenheit erfolgreich mit Bindegewebsmassagen. Ebenso beim sogenannten Rolfing, das seit den 1950er-Jahren praktiziert wird und auf Ida Rolf zurückgeht, gilt das Bindegewebe als Auslöser für Schmerzen. Doch erst nachdem Schleip 2007 beim ersten Faszienkongress in Boston 650 Teilnehmer aus 28 Ländern zusammenbrachte, entwickelte ihre Erforschung eine enorme Dynamik.
Mittlerweile wird deutlich, dass das Bindegewebe sich verändern, wuchern oder verkleben kann. Dadurch werden Nerven eingeklemmt, was wiederum Schmerzen verursacht. Die Tatsache, dass jeder siebte deutsche Mann und jede fünfte deutsche Frau unter Rückenschmerzen leidet, rückt besonders die große Rückenfaszie, auch Lumbodorsal-Faszie genannt, in den Fokus. „In den letzten zwei Jahrzehnten hat man sich vorwiegend auf die Bandscheiben als Schmerzauslöser konzentriert“, sagt Schleip. Tatsächlich ist die Zahl der Bandscheibenoperationen im letzten Jahrzehnt rasant angestiegen. Und das, obwohl rund 80 Prozent der Rückenleiden als „unspezifisch“ gelten – also die Ursachen nicht genau diagnostiziert werden können.
Auch rückengesunde Menschen haben Bandscheibenvorfälle
Dabei zeigten bildgebende Verfahren bereits 2009, dass auch rückengesunde Menschen häufig Bandscheibenvorwölbungen und -vorfälle haben. „Funktionelle Störungen in Muskeln und Weichteilen lassen sich mit bildgebenden Verfahren wie Röntgen oder MRT nicht erkennen“, erklärt Professor Siegfried Mense von der medizinischen Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg, der seit vielen Jahren zur Entstehung von Rückenschmerzen forscht.
Er findet, dass bei unspezifischen Rückenschmerzen zu schnell und zu viel operiert wird. „Da werden manchmal normale Altersprozesse operiert. Die Erfolgsquote ist deshalb nicht sehr gut.“ Selbst wenn es eine nachweisbare Veränderung an der Wirbelsäule gibt, muss eine Operation nicht unbedingt notwendig sein. Mense hat bei seinen Forschungen eine große Zahl von potenziellen Schmerzrezeptoren in der Rückenfaszie entdeckt. „Das weist darauf hin, dass diese Faszie ein häufiger Schmerzauslöser sein könnte.“
Aber auch Stressbotenstoffe können Faszien schädigen. Bei ständigem Stress erhöht sich der fasziale Tonus, das Zusammenziehen der Faszien. Dies kann zu Verspannungen oder Steifheit in ganzen Körperregionen führen. Vermutlich können auch Mikro-Verletzungen in den Faszien, die etwa durch falsche und einseitige Belastung entstehen, für Rückenschmerzen sorgen.
Jetzt, da sich weltweit nun Mediziner, Forscher und Therapeuten einig sind, welche enorme Rolle dem Bindegewebe zukommt, nehmen sich dem Problem auch professionelle Faszientrainer an. Denn gesundes Bindegewebe ist flexibel und elastisch, gleichzeitig aber auch reißfest und belastbar. Das ist die Grundvoraussetzung für vitale Spannkraft und körperliche Leistungsfähigkeit. Neben einer bewussten und korrekten Körperhaltung, ist regelmäßige Bewegung wichtig, um das Bindegewebe zu stärken beziehungsweise wieder geschmeidig werden zu lassen. Ein spezielles Fazientraining beinhaltet Gymnastikübungen, die den sogenannten Asanas im Yoga sehr ähneln, kombiniert mit einer faszialen Druckmassage mit Schaumstoffrollen und Triggerpunktbällen. Allerdings braucht man etwas Geduld und Durchhaltevermögen: „Es dauert bis zu zwei Jahre, bis die Schmerzen beim Faszienrollen nachlassen und erst dann kann man davon ausgehen, dass sich das Training positiv bemerkbar macht“, so Faszientrainerin Schlieper.
Wussten Sie, dass…?
… der ganze Körper von einer faszialen Hülle umgeben ist? In ihr sind Tausende von Dehnungsrezeptoren verbunden, die eine wichtige Rolle für die Körperwahrnehmung spielen. … man davon ausgeht, dass durch unzureichende Muskelaktivität die Faszien steif und unbeweglich werden? Also: weg vom Sofa!
… ein Neugeborenes etwa 80 Prozent Wasser im Körper hat, das überwiegend im Bindegewebe gebunden wird? Die Faszien Neugeborener verfügen zudem über eine extrem gute Elastizität. Ein Senior hingegen kommt nur auf etwa 50 Prozent Wassergehalt.
… bei der faszialen Druckmassage Wasser im Gewebe gebunden wird? Zudem schüttet der Organismus dabei kollagenaufbauende Stoffe aus.
… bei Rückenschmerzen, die von den Faszien ausgelöst werden, auch manuelle Therapie, Akupunktur oder Rolfing helfen können? (au)
Übungen zum Nachmachen im Video
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