Hartmut Scherzer

Graciano Rocchigiani verkörperte mit 54 Jahren das blühende Leben. Der einstige Boxweltmeister trat im Internet und im Fernsehen auf als der allseits geachtete Boxexperte schlechthin.

Mit rauchiger Stimme und gegelten grauen Haarstoppeln sagte er offen und ehrlich, kurz und knackig, mitunter sarkastisch, was Sache und was ein klares Fehlurteil ist.

„Rocky“ war eine vom Gerechtigkeitssinn geprägte ehrliche Haut. Auch gegenüber sich selbst. „Klar, ich bin der schlimme Finger“, hat er einmal in einem „Stern“-Interview über sich und sein mehrmals aus den Fugen geratenes Leben geurteilt. Ad-hoc-Rücktritte und große Comebacks kennzeichneten die turbulente Karriere.

Legendäre Ringschlachten

Warum diese Zeilen in der Vergangenheit geschrieben sind? „Rocky“ ist tot. Als Fußgänger wurde der IBF-Champion im Supermittelgewicht von 1988/89 am Montagabend auf Sizilien von einem Auto überfahren. Ein Schock, vor allem auch für all jene, die ihn begleitet haben, von den Amateuren, über die Profi-Weltmeisterschaften bis zu gemeinsamen Experten-Runden fürs Bezahlfernsehen.

Die legendären Ringschlachten des raubeinigen Haudegen („Boxer am Boden, jutet Jefühl“) in den 80er- und 90er-Jahren haben sich im Gedächtnis jedes Boxfans eingegraben. Die WM-Duelle im Halbschwergewicht mit Henry Maske und Dariusz „Tiger“ Michalczewski oder der EM-Kampf gegen Alex Blanchard boten dramatische Spektakel.

Den Kampf gegen Dariusz Michalczewski (links) verlor Graciano Rocchigiani 1996 durch eine Disqualifikation.
Den Kampf gegen Dariusz Michalczewski (links) verlor Graciano Rocchigiani 1996 durch eine Disqualifikation. | Bild: Witters

In der zweiten Runde war das rechte Auge komplett zugeschwollen. „Einäugig“ kämpfte Graciano Rocchigiani weiter und besiegte den Holländer in der neunten Runde tatsächlich noch durch K.o.. Der echte Berliner „Rocky“ stellte mit seinem Kämpferherz und den Chaos-Jahren den Hollywood-„Rocky“ alias Sylvester Stallone glatt in die Ringecke.

Ein fragwürdiges Urteil

„Graciano, sie werden Dich bescheißen, glaube es mir“, brüllte seine damalige Frau Christine nach dem Schlussgong des ersten Kampfes „Ossi gegen Wessi“ (Rocchigiani) zum Ring. Tatsächlich war der Punktsieg Henry Maskes ein höchst fragwürdiges Urteil.

Das sah selbst der zu Boden geschlagene Maske so. Das Gentleman-im-Ring-Idol jener Epoche forderte seinen Promoter Wilfried Sauerland auf, sofort einen Rückkampf zu arrangieren. Den verlor „Rocky“ unstrittig nach Punkten.

Am 27. Mai 1995 verlor Graciano Rocchigiani (links) gegen den damaligen Weltmeister Henry Maske. Das Urteil ist umstritten.
Am 27. Mai 1995 verlor Graciano Rocchigiani (links) gegen den damaligen Weltmeister Henry Maske. Das Urteil ist umstritten. | Bild: Franz-Peter Tschauner

Unrecht widerfuhr ihm auch im ersten Kampf gegen den „Tiger“. Rocchigiani hatte sich sieben Wochen lang im sagenumwobenen „Kronk Gym“ Emanuel Stewards in Detroit vorbereitet.

Ein Leben mit Konflikten

Für eine Story in der „Hölle“ war ich eigens mit einem Fotografen von den Olympischen Spielen 1996 in Atlanta in die Autostadt geflogen. Wir waren im Apartment der Rocchigianis verabredet, fuhren gemeinsam in deren Auto ins Gym – und wurden von Graciano vor dem Sparring hinaus hinter die Kellertür geschickt. So unberechenbar war er eben.

Natürlich habe ich durch einen Spalt zugeschaut und ihm anschließend bestechende Form bescheinigt. „Haste gelinst.“ Seine Kronk-Form bekam Dariusz Michalczewski fürchterlich zu spüren. 

Nach einem angeblichen Foul, ein Treffer während des „Break“ mit anschließender Verwarnung, taumelte Michalczewski auf einmal durch den Ring, mimte den schwer Getroffenen und war nicht willens, sich wieder zum Kampf zu stellen. Wohl wissend: Der Ringrichter hatte keine andere Wahl, als den total überlegenen „Rocky“ zu disqualifizieren.

Mehrmals geriet „Grace“ mit dem Gesetz in Konflikt und verbüßte Haftstrafen. Er war berüchtigt für seine Eskapaden, erfuhr aber auch dabei manche Ungerechtigkeit des Lebens.

Unschuldig im Gefängnis

Als er erstmals im Knast saß, verurteilt wegen „versuchten Menschenhandels“, füllten Skandal-Schlagzeilen und Gefängnis-Geschichten die Zeitungen. Als er nach sechs Wochen Haft wegen erwiesener Unschuld frei kam, „war ick nur noch ne kleene Meldung wert“.

Einmal hatte mir „Rocky“ wegen eines missliebigen Artikels telefonisch Prügel angedroht. Vor dem Rückkampf gegen den „Tiger“ vier Jahre später (Aufgabe 10. Runde) redete er im Trainingslager in den Pocono Mountains in Pennsylvania kein Wort mit mir. „Keen Bock auf Jequatsche.“

Bei unserer letzten Begegnung hat er mich innig umarmt. Im Kern war Graciano Rocchigiani ein guter Mensch. Ehrlichkeit als Lebensmotto zu pflegen, ist ja keine Schwäche eines noch so schwierigen Charakters. „Rocky“, der echte aus dem Leben, ist Legende.