Seit 15 Jahren befindet sich Europa in einer gefühlten Dauerkrise: die Banken, der Euro, die Flüchtlinge, Corona; und nun auch noch der russische Überfall auf die Ukraine. Kein Wunder, dass manche Menschen, für die „Tagesschau“ oder „heute“ früher Pflichttermine waren, derzeit kaum mehr Lust auf Nachrichtensendungen haben. Wie also soll man in diesen Zeiten berichten, von was kann man noch erzählen?
Die Journalistin Ronja von Wurmb-Seibel appelliert in ihrem Buch „Wie wir die Welt sehen“ an ihre Kollegen, auf den „Negativ-Filter“ zu verzichten. In der Tat lautet ein uraltes Presse-Credo, nur schlechte Nachrichten seien gute Nachrichten.
Wurmb-Seibel hat früher, als sie noch für das Politikressort der „Zeit“ gearbeitet hat, ähnlich gedacht. Ihr Sinneswandel erfolgte, während sie 2013 und 2014 als Reporterin in Afghanistan war. Als sie feststellte, dass ihr die Auseinandersetzung mit dem Elend jegliche Lebenskraft entzog, hielt sie gezielt Ausschau nach Geschichten, die Mut machen.
Diese Haltung prägt auch ihr Buch. Darin geht sie der Frage nach, wie sehr Nachrichten unser Denken, unsere Wahrnehmung und unser Leben beeinflussen.
Wir Menschen brauchen Geschichten, schreibt sie, um unsere Erlebnisse und Erinnerungen abzuspeichern, um Mitgefühl zu entwickeln und die Welt mit anderen Augen zu sehen. Geschichten, und dabei schließt sie Zeitungsreportagen ausdrücklich mit ein, „können Sinn stiften und Gemeinschaft“, sie hätten entscheidenden Einfluss darauf, „ob wir Angst vor der Zukunft haben oder uns auf sie freuen.“

Was aber macht es mit uns, „wenn wir uns ohne Unterlass mit Katastrophen, Gewalt und Zerstörung konfrontieren“? Die Wirkungsforschung hat sich in unzähligen Studien damit beschäftigt, welchen Einfluss filmische Gewaltdarstellungen haben.
Die Wirkung von Nachrichten ist längst nicht so intensiv erforscht worden, die Ergebnisse sind zudem widersprüchlich. Einige Studien sagen: Wer dauernd Berichterstattungen etwa über Terrorismus wahrnimmt, leidet irgendwann unter den gleichen Folgen wie Menschen, die Terror tatsächlich erlebt haben. Ob das so pauschal stimmt? Nachvollziehbar ist zumindest: Je öfter Menschen vor einer bestimmten Bedrohung gewarnt werden, desto größer ist ihre Angst, irgendwann selbst betroffen zu sein.
Angst und Schuldgefühle
Einen ähnlichen Effekt sieht die Journalistin bei der medialen Berichterstattung: Der dauerhafte Konsum ausschließlich negativer Nachrichten führe fast zwangsläufig zu Angst, aber auch zu Schuldgefühlen, „weil wir nicht noch mehr tun, um die Welt zu verbessern“. Schließlich erwecke die Berichterstattung den Eindruck, dass die Missstände unabänderlich seien. Mit anderen Worten: Wenn ohnehin alles den Bach runtergeht, kann man das Engagement gleich bleiben lassen.
Tatsächlich glauben viele Menschen, dass sie keinen Einfluss auf Politik und Gesellschaft hätten. Dieser generelle Negativ-Filter, behauptet Wurmb-Seibel, sei vielen derart in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie auch privat nur noch von den Dingen erzählten, die schiefgegangen sei. Auch deshalb berichtet der SÜDKURIER immer wieder von Erfolgsgeschichten, mal im Großen, häufig aber auch im Kleinen.
Eine weitere Forderung gilt hingegen vor allem dem Fernsehen, und da in erster Linie politischen Talkshows wie „Hart aber fair“ (ARD). Sie plädiert energisch für einen Verzicht auf die „False Balance“, eine falsche Ausgewogenheit: Ein Gast vertritt im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie eine für den gesunden Menschenverstand als offenkundiger Unfug erkennbare, aber voller Überzeugung vorgetragene Meinung, an der sich die anderen nun 75 Minuten lang abarbeiten müssen. Auf diese Weise entsteht der falsche Eindruck, diese nur von einer Minderheit vertretene Ansicht repräsentiere die Haltung großer Teile der Gesellschaft.
Ein letzter Appell der Journalistin gilt ebenfalls allem dem Fernsehen, das sich gerne auf markante Persönlichkeiten konzentriert und auf diese Weise dem vom Mythos der Heldenreise geprägten Narrativ des heroischen Individuums folgt. Dieser Fokus auf eine zentrale Figur, kritisiert Wurmb-Seibel, klammere jedoch das gemeinschaftliche Handeln aus.
Das gelte auch im Schlechten, wie die USA-Berichterstattung während der Amtszeit von Donald Trump gezeigt habe: Die Konzentration auf den Präsidenten, der Skandale quasi im Minutentakt produzierte, habe den Blick darauf verstellt, wie sehr das gesamte Land nach rechts gerückt sei.