Wie eine gute Freundin hält der ukrainische Soldat die Schaufensterpuppe ohne Unterleib im Arm. Mit ihrer Silhouette täuscht sie feindliche Scharfschützen. Die Löcher im Brustkorb der mit Klebeband notdürftig geflickten Puppe zeugen von den Kugeln, die sie eingefangen hat in einem Krieg, der im Westen lange vergessen war. Dabei ist der Osten der Ukraine seit der Annexion der Krim durch Russland und der Ausrufung der „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk 2014 nicht mehr zur Ruhe gekommen.
Der Journalist und Fotograf Till Mayer hat den Krieg in der Ukraine nicht vergessen. Seit einigen Jahren reist er regelmäßig dorthin, um Szenen wie die mit der Schaufensterpuppe im Schützengraben festzuhalten und daran zu erinnern, dass kaum ein Tag vergeht, an dem im Osten der Ukraine nicht geschossen wird. Bereits seit Januar läuft Mayers Fotoausstellung „Donbas – Krieg in Europa“ im Bayerischen Armeemuseum in Ingolstadt. Mit der russischen Invasion der gesamten Ukraine gewinnt die Ausstellung noch einmal mehr an Dramatik und Aktualität.
Die Bilder stammen aus den Jahren 2017 bis 2021. Ihre Schwarz-weiß-Ästhetik weckt Assoziationen, erinnert an Fotografien aus den Weltkriegen. Abgebildet sind Soldaten an der Front, zum Beispiel ein erfahrener Kämpfer, der mit Zigarette in der einen Hand und einer Kalaschnikow in der anderen vor der Kamera posiert.

Oder zwei Kameraden, die in trügerischer Idylle im Kerzenschein zusammen essen. Ein Foto zeigt einen Hund, der neben seinem Herrchen im Schützengraben liegt und Wache hält – aber wohl auch Trost spendet und zu Streicheleinheiten taugt an einem Ort, wo menschliche Nähe fehlt.
Ein Raum im Armeemuseum ist ganz den ukrainischen Soldatinnen gewidmet. Auf einem Bild ist die 19-jährige Olesia zu sehen. Sie steht vor Sandsäcken in einem Bunker und lächelt schüchtern.

Mit ihren kurzen Haaren und der Kappe auf dem Kopf wirkt sie wie ein Junge. Nach ihrer Dienstzeit wollte sie studieren – doch, wie man auf dem Täfelchen neben der Fotografie erfährt, stirbt sie kurz nachdem die Aufnahme entstand. Eine Granate tötet sie. Wie mehrere Medien berichten, dienen in der ukrainischen Armee knapp 32.000 Frauen, das sind circa 15,6 Prozent des Militärs. Fast 5000 von ihnen sind Offiziere.
Mayers Fotos bilden aber auch den Alltag der Ukrainerinnen und Ukrainer ab, die nahe der so genannten „Kontaktlinie“ zwischen den eigenen Streitkräften und den von Russland unterstützten Separatisten leben: Kinder spielen in einem verwahrlosten Garten, schaukeln in einem Reifen über den abgemagerten Kadaver ihres Hundes hinweg. Die drei Geschwister scheinen unberührt, verroht vom andauernden Konflikt und seinen Auswirkungen. Auf einem anderen Bild blickt Valentina ernst in die Kamera. Die 79-Jährige hat sich in ihrem Gemüsekeller verschanzt.

Zwar hat Till Mayer die Fotos vor der endgültigen Eskalation des Konflikts gemacht, doch sei davon auszugehen, dass die meisten der porträtierten Soldatinnen und Soldaten nun auch in dem von Russland vergangene Woche gestarteten Angriffskrieg für ihr Land kämpfen, erzählt der 50-Jährige am Telefon. Er ist nah dran am Geschehen. Sechs Tage vor der Invasion hatte er die Ukraine verlassen, als noch die „Ruhe vor dem Sturm“ herrschte, wie er sagt. Derzeit hält er sich in Afghanistan auf, am Freitag will er aber wieder in die Ukraine zurückfliegen, um zu berichten. Die Menschen in dem osteuropäischen Land liegen ihm am Herzen.

Mayer fotografiert sie nicht nur. Ausgerüstet mit schusssicherer Weste, Helm und Erste-Hilfe-Set begleitet er sie, lernt sie kennen. Manche wurden zu Freunden, mit denen er auch von Deutschland aus Kontakt hält. Sie wiesen ihn 2017 darauf hin, dass im Osten der Ukraine keineswegs Frieden eingekehrt ist – trotz der mit den Separatisten im September 2014 in Minsk vereinbarten Waffenruhe. Und so machte Mayer sich erneut mit seiner Kamera auf den Weg.

Schon seit Beginn seiner journalistischen Karriere hat Mayer es sich zur Aufgabe gemacht, über Konflikte zu berichten, die aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit verschwunden sind. „Es ist wichtig, den Menschen in Kriegsgebieten eine Stimme zu geben“, erklärt der Journalist seine Motivation. 2019 erschien sein Bildband „Donbas – Europas vergessener Krieg“.
Eigentlich hätte die Ausstellung im Bayerischen Armeemuseum wenig später folgen sollen, doch coronabedingt wurde sie verschoben. Zu Beginn des Jahres, als sich die Situation zuspitzte und die Ausstellung schließlich eröffnet wurde, war der Titel nicht mehr passend und musste geändert werden. Nun ist der Krieg mitten in Europa alles andere als vergessen. Er ist omnipräsent.
Dass es eine Invasion geben würde, habe er schon länger geahnt, sagt Mayer. Doch dass sie sich auf das gesamte Land erstrecken würde, damit hatte er nicht gerechnet. „Das ist eine einzige Katastrophe.“ Viele seiner Bekannten seien jetzt auf der Flucht, hörten Granaten einschlagen und Sirenen heulen. Mayer schockieren aber nicht nur die Kämpfe, sondern auch die Empathielosigkeit und das Verhalten Deutschlands. Hätte man Wladimir Putin gegenüber eine klare Linie gefahren, wäre der Krieg so nicht gekommen, ist er sich sicher. „Es ist eine Schande, dass es solche Bilder in Europa noch gibt.“
Bis 26. Juni im Armeemuseum Ingolstadt, Neues Schloss. Öffnungszeiten: Di.-Fr. 9-17.30 Uhr, Sa. und So. 10-17.30 Uhr. Weitere Informationen finden Sie hier.