Warum gehen mit jedem, der sich mal traut, gegen vorherrschende Meinungsmuster zu argumentieren früher oder später die Gäule durch? Wertegeleitete Außenpolitik: Wie wichtig wäre es, sie kritisch zu befragen! Politisch korrekte Sprache: Wie gut, dass es Menschen gibt, die nicht über jedes Stöckchen springen!

Aber dann beschimpft der Publizist Richard David Precht die deutsche Außenministerin (“Unfall!“, „nicht mal als Praktikantin geeignet!“, „Klassensprecherin!“) auf Pegida-Niveau. Und als Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer nicht unwidersprochen einen rassistisch konnotierten Begriff sagen darf, fühlt er sich gleich vom Judenstern verfolgt. 

Soeben berichtet mir ein Kollege ernüchtert von seinem Besuch beim Kabarettisten Dieter Nuhr in der Ravensburger Oberschwabenhalle: Als Fernsehzuschauer habe er ihn für subtile Spitzen gegen den Mainstream geschätzt – live bleibe davon nur dumpfe Stimmungsmache. Was ist es also, das an sich vernunftbegabte Leute, Querdenker im besten Sinne dieses Wortes, so zuverlässig zum Griff in die unteren Schubladen der Rhetorik treibt?

Bei Boris Palmer findet sich die Erklärung in den Nerven. Einen Politprofi lässt das Geschrei von Demonstranten kalt. Der Hitzkopf dagegen bleibt stehen, lässt sich hineinziehen in einen Schlagabtausch, den er als Politiker gar nicht gewinnen kann. Weil es hier um Überbieten geht statt Überzeugen, um Verurteilen statt Verhandeln.

Nach den Spielregeln der Eskalation gelten Bezüge zum Dritten Reich als höchste Trümpfe. So antwortet Palmer auf die Nazi-Karte mit dem Judenstern-Ass – und verkennt völlig, dass er auf diesem Spielfeld gar nichts verloren hat.

Nervenstärke und Demut

Richard David Precht dagegen hat aus dem Kurzschließen von Halbwahrheiten ein höchst lukratives Geschäftsmodell erschaffen. Diesmal muss die Religion dran glauben: Kommt sie monotheistisch daher, argumentiert er im ZDF-Podcast, so sei ihr das Missionieren schon in die DNA eingeschrieben.

Weil hingegen nicht monotheistischen Religionen das Missionieren fern liege, bräuchten wir im Westen ein buddhistisch geprägtes China kaum zu fürchten und könnten die dortige Regierung getrost ihr Ding machen lassen. Genau das aber widerstrebt Annalena Baerbock, deren Ernennung zur Außenministerin folglich ein Unfall sein muss.

Das Knirschen in diesem Argumentationsgebälk dürfte man bis Peking hören. Denn die Sorge westlicher Regierungen gilt weniger einer Mission als der Expansion. Und dass von dieser nicht nur monotheistische Kulturen etwas verstehen, haben schon Alexander der Große, diverse Perserkönige und römische Cäsaren bewiesen.

Missionierung ist übrigens im monotheistischen Judentum kein Thema, sehr wohl aber bei der hinduistischen, mithin polytheistischen Hare-Krishna-Bewegung. Es mag an unserer Außenministerin vieles kritikwürdig sein. Aber auf Precht hören? Hoffentlich bekommt er bei ihr nicht mal ein Praktikum.

Der eine verliert die Nerven, der andere erliegt seiner Hybris. Und der Dritte hält sich im Fernsehen vielleicht nur mehr zurück als vor Saalpublikum. Vermeintliche Gewissheiten hinterfragen, ohne sich im Ton zu vergreifen, das scheint eine echte Herausforderung zu sein. Die Beispiele des Scheiterns zeigen: Nervenstärke und Demut wären zwei wichtige Voraussetzungen.