Der Hunger gilt in unseren Breitengraden als besiegt, der Hass noch lange nicht. Dass selbst Wohlstand keine Gewähr bietet für eine Kultur der Toleranz und Solidarität, zählt zu den großen Irritationen unserer Zeit: Wenn sich das tägliche Brot bereits zum täglichen Fleisch gewandelt hat, erhältlich zu Spottpreisen dank Massentierhaltung – was braucht der Mensch dann noch, um endlich zufrieden zu sein mit seinem Los?

Ein Roman aus der Anfangszeit des modernen Wohlstands legt die Spur zu einer möglichen Antwort. Es handelt sich um das Debüt des großen norwegischen Dichters Knut Hamsun, erschienen 1890, jetzt in neuer Übersetzung (von Ulrich Sonnenberg) im Manesse-Verlag erschienen. Sein Titel „Hunger“ verrät nur unzureichend, worum es in diesem Buch geht.

Zwar verarbeitet der damals 29 Jahre alte bislang weitgehend erfolglose Dichter eine Lebensphase, die tatsächlich von Hunger geprägt war. Zwei Jahre zuvor hatte er zwischen zwei Amerika-Aufenthalten zeitweilig versucht, in Oslo als Journalist Fuß zu fassen. Wegen der spärlichen Auftragslage war er dabei immer wieder in finanzielle Not geraten, musste manchen Tag mit leerem Magen durchstehen.

Doch der Hunger, über den Hamsun in seinem Roman schreibt, geht über die organische Mangelerscheinung hinaus. Sein Protagonist hungert an einer Nahrung, die sich nicht kaufen lässt in den Einkaufsläden der durch die Industrialisierung zur Metropole gereiften Hauptstadt.

Knut Hamsun (1859-1952) auf einem undatierten Archivbild.
Knut Hamsun (1859-1952) auf einem undatierten Archivbild. | Bild: B0131 Pressensbild

Es ist eine neue, für ihre Einwohner ungewohnte Art des Zusammenlebens, die sich in diesen urban verdichteten Straßenzügen entwickelt. Ein explosionsartiger Anstieg der Einwohnerzahl von 32 000 auf 228 000 in nur 50 Jahren hat die Menschen spürbar verunsichert. Wo gestern noch dörfliche Vertrautheit war, herrscht nun anonyme Geschäftigkeit vor. Den öffentlichen Raum betritt man nur noch, um Besorgungen zu erledigen. Wer auf persönliche Konversation aus ist, macht sich verdächtig: zu viel Zeit offenbar, vielleicht keine Arbeitsstelle, womöglich auch leicht verrückt.

Hamsuns Romanheld irrt durch diese neue Welt mit fiebriger Nervosität. Er ist auf der Suche, nein geradezu auf der Jagd nach Nahrung und nach Arbeit. Doch beides erklärt nicht seine überspannte Wahrnehmung und die seltsamen Einfälle, die ihn immer wieder umtreiben.

„Glauben Sie, ich lüge Ihnen die Hucke voll?“

Einem plötzlichen Bedürfnis folgend, steigt er zwei jungen Frauen nach, macht sie auf ein vermeintliches Malheur aufmerksam: „Sie verlieren Ihr Buch, Fräulein!“ Und freut sich an ihrem so ratlosen wie vergeblichen Bemühen, das mysteriöse Buch zu finden, das hier angeblich verloren zu gehen droht.

Ein kleiner alter Mann wird zum dankbaren Zuhörer für eine Lügengeschichte. Aus der harmlosen Frage nach seinem Wohnort spinnt der hungrige Journalist einen fiktiven Vermieter namens Happolati, beteuert dessen Erfindergeist als Urheber eines elektrischen Psalmbuchs und schwört, dieser Mann sei für viele Jahre auch als Minister in Persien unterwegs gewesen. Dass der Zuhörer keineswegs misstrauisch wird, sondern den Unsinn sogar voller Dankbarkeit zu vernehmen scheint, treibt den Erzähler erst recht auf die Palme: „‘Himmelherrgott noch mal, Mann, glauben Sie vielleicht, ich sitze hier und lüge Ihnen die Hucke voll?‘, brüllte ich außer mir.“

Knut Hamsun: „Hunger“, Manesse Verlag 2023; 256 Seiten, 25 Euro.
Knut Hamsun: „Hunger“, Manesse Verlag 2023; 256 Seiten, 25 Euro. | Bild: Manesse

Und als endlich die Nacht anbricht, als in den Straßen von Oslo „das heimliche Treiben erwacht und die unbeschwerten Abenteuer beginnen“ mit einer Luft „voller Flüstern, Umarmungen, bebender Geständnisse, halb ausgesprochener Worte und leiser Seufzer“: Da steht der arme Schlucker ganz ohne das nötige Kleingeld da. „Es war ein Jammer, ein Elend sondergleichen, so blank zu sein. Welche Demütigung, welche Schmach!“

Trotzdem findet sich ein Mädchen, das ihn kurzerhand am Arm nimmt und ihn an einen geheimen Ort führen will. Dass er ihre Dienste gar nicht bezahlen kann, löst bei ihr erst Verärgerung aus. Doch dann besinnt sie sich: „Sie können trotzdem mitkommen.“ Aus der Prostituierten wird plötzlich eine Verführerin aus freiem Willen. Keine Frage, auch sie hungert, nach echter Nähe, nach Umgang auf Augenhöhe, nach einem Hauch von Liebe. Doch das geht gegen den Stolz des verhinderten Freiers: „Ich fühlte mich durch dieses Angebot einer armen Straßenhure gedemütigt und lehnte ab.“

So gehen zwei Hungernde, die einander sättigen könnten, unverrichteter Dinge wieder auseinander. Weil Stolz und urbaner Standesdünkel die Erfüllung ihrer Sehnsüchte verhindern.

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Hamsun spätere Begeisterung für den Nationalsozialismus rückte auch seinen Erstlingsroman in ein fahles Licht. „Hunger“, so hat man ihm vorgeworfen, überzeichne soziale Probleme und gebe einen existenzialistischen Ton vor, der im Faschismus populär werden sollte. In Ulrich Sonnenbergs Übertragung der Urfassung lassen sich solche Vorbehalte kaum mehr nachvollziehen, zu viele Jahre liegen auch zwischen diesem Werk und den Schrecken des Dritten Reichs.

Seine Faszination bezieht es vielmehr aus der entlarvenden Beschreibung von einsamen Seelen, die in einer allzu schönen neuen Welt umso größeren Hunger verspüren. Nach Nähe, nach Aufmerksamkeit, nach Sinn. Der Hunger ist auch im digitalen Zeitalter noch immer nicht gestillt.

Knut Hamsun: „Hunger“, Manesse Verlag 2023; 256 Seiten, 25 Euro.