Bei Engen, als der Blick über den Hegau mit seinen Vulkan-Kegeln geht, kann die Mutter nicht mehr an sich halten. Wie herrlich diese Gegend doch sei, ruft sie ihrem auf der Rückbank sitzenden Sohn zu, wie gesegnet! Der Enthusiasmus dient weniger dem Lob einer Landschaft als dem Freispruch von eigener Schuld. Denn die sich da so freudig erregt, hat gerade beschlossen, der so hymnisch besungenen Gegend etwas anzuvertrauen: Es ist nichts Geringeres als das eigene Kind.
Bodo Kirchhoff ist elf Jahre alt, als er ins evangelische Internat am Schloss Gaienhofen einzieht. Heute, fast 60 Jahre später, schreibt er darüber ein Buch. „Dämmer und Aufruhr“ lautet sein Titel, erschienen ist es in der Frankfurter Verlagsanstalt. Es beschreibt die Zeit der frühesten Kindheit bis zum jungen Erwachsenenleben, ein Bildungsroman klassischer Prägung also. Und auch wenn die Mutter mit der „herrlichen Gegend“ nicht falsch gelegen haben mag – ob sie auch gesegnet war, ist in mancher Hinsicht zweifelhaft: Kirchhoff hatte bereits vor acht Jahren seine Missbrauchserfahrungen durch einen pädophilen Kantor publik gemacht.

„Missbrauchserfahrungen“, das sagt sich so schnell dahin. Was es bedeutet, ist für Außenstehende allenfalls eine dunkle Ahnung. Auch, weil jeder einzelne Missbrauch einzigartig ist, unterschiedliche Menschen betrifft, unterschiedliche Kontexte. Kirchhoff bringt ein wenig Licht in dieses Dunkel. Und es gelingt ihm, indem er zur Recherche nicht nach Gaienhofen fährt, sondern in die italienische Küstenstadt Alassio. Dort, im Hotel „Beau Sejour“, hatten seine Eltern noch ein letzes Mal glückliche Tage miteinander verbracht. Ein letztes Mal, bevor sie sich scheiden ließen und allein ihren Kindern noch sporadisch Familienglück vorspielten.
Im Zimmer mit Meerblick kommt Kirchhoff dem Lebensgefühl eines typischen Nachkriegs-Paares auf die Spur. Er: ein Kriegsversehrter mit nur noch einem Bein, der als Unternehmer um den Anschluss ans Wirtschaftswunder kämpft. Sie: eine junge Schauspielerin, die im Krieg erst den Vater verlor, dann den Verlobten und sich jetzt nach einer lebenslangen, verlässlichen Liebe sehnt. Sie sind getrieben von der Sehnsucht nach Aufstieg, nach Frieden und Sicherheit. Und genau diese gemeinsame Sehnsucht vereint sie nicht, sondern treibt sie auseinander.
Stadtkinder im Schwarzwald
Die beiden Kinder – Bodo und seine Schwester – sie kamen wohl zu früh für dieses noch so labile Paar. Der Vater ist zerrissen zwischen seiner Rolle als Unternehmer, Ehemann und Familienoberhaupt. Die Mutter flüchtet sich Groschenromane schreibend in Fantasiewelten. Und auffallend oft steht Alkohol auf dem Tisch. Ein Umzug von Hamburg nach Kirchzarten im Schwarzwald bringt den Stadtkindern ein idyllisches Landleben mit heißen Sommern und schneereichen Wintern, den Eltern bleiben finanzielle Sorgen.
Bildung, Kirche, Konventionen
Scheidung ist noch gesellschaftlich geächtet. Doch wie soll man diese Familie zusammenhalten, wenn der Mutter als rettender Ausweg ein Stellenangebot aus dem fernen Frankfurt am Main ins Haus flattert? Zum Glück gibt es am Bodensee ein Internat mit kirchlichem Segen. Und zum Glück gibt es in Kirchzarten einen Pastor, der die Eltern sogar noch dazu ermuntert, ihren Sohn einfach in Gaienhofen unterzubringen. Bildung, Kirche, Konventionen: Das ist in dieser Zeit der Dreiklang, der Kinder in Internate treibt.
Es ist eine Zeit, in der es nur richtig und falsch zu geben scheint, schwarz und weiß. Lehrer haben immer recht, und wer ein guter Kantor ist, der ist automatisch auch ein guter Mensch. Die Mutter verfällt diesem braungebrannten Mann mit dem Winnetou-Gesicht gleich beim ersten Schulkonzert. Und als sie Jahre später von ihrem Sohn erfährt, was nach den Musikproben tatsächlich geschehen ist, tut sie es ab: Eine gewisse Nähe zwischen Pädagoge und Zögling sei in so einem Internat nun mal unvermeidlich, und er sei doch „aus all dem gut herausgekommen“.

Von außen betrachtet mag das tatsächlich so scheinen. Es ist eine fatale Logik, in die das Kind hineingerät. Weil der Kantor ja streichelt, wo andere nur schlagen, gilt es, ihm zu gefallen. Aus dem Missbrauchsopfer wird trotz allen Unbehagens ein ihm bereitwillig folgender Geliebter, bange wartend „auf einen Wink meines Kantors“, immer in großer Sorge, „ihm nicht zu genügen“. Und es gehört zu den verstörenden Momenten dieses Buchs, dass man ihm als Leser in dieser Entwicklung folgen kann, ja, sich gar keine andere Option vorzustellen vermag.
Was tatsächlich vorgefallen ist, bedarf der vollständigen Lektüre. Jede Zusammenfassung, jede Kürzung dieser so eindrücklichen wie schockierenden Beschreibung von Lust und Ekel, Überraschung und Ahnung muss wie eine unzulässige Verharmlosung erscheinen. Aus seinem „kindlichen Ding“ sei „innerhalb einer Nacht ein Schwanz geworden“, schrieb Kirchhoff bereits 2010, als er erstmals davon öffentlich sprach.
Gefangener seines Trieblebens
Der vorliegende autobiografische Roman „Dämmer und Aufruhr“ macht die Bedeutung dessen erst begreifbar. Sie zeigt sich in einem Jungen, der Gefangener seines Trieblebens wird. Nicht in dem Sinne, wie es üblich ist bei pubertierenden Jugendlichen. Sondern als verzweifelt Suchender, als einer, der die eigene Sexualität ein zweites Mal zu entdecken versucht – dieses Mal aus eigenem Antrieb. Und der dabei sich selbst zu verlieren droht. „Jahrzehnte würde es dauern, bis sich ihm erschließt, wie sehr das Begehren das Sein verbraucht“, heißt es, als er zum ersten Mal mit einer Prostituierten geschlafen hat.
Kirchhoff beschreibt diese Suche mit frappierender Offenheit und analytischem statt moralisierendem Blick. Es ist der Versuch, dem Modell einer „gesegneten Gegend“ die Vorstellung einer Wirklichkeit entgegenzuhalten, in der weder das absolut Böse herrscht noch das unbedingt Gute. Sondern in der sich aus historischen Voraussetzungen, persönlichen Dispositionen und nicht zuletzt fatalen wie glücklichen Zufällen Schicksale und Charaktere entwickeln. Der Erzähler scheint über diese Einsicht zu einer Art Versöhnung zu finden: mit seinen Eltern, mit seiner Vergangenheit und schließlich mit sich selbst.
Der Autor
Bodo Kirchhoff (69) zählt zu den bedeutendsten Gegenwarts-Autoren deutscher Sprache. Nach seiner Kindheit, die er ein Hamburg, im Schwarzwald sowie im Internat Schloss Gaienhofen verbrachte, studierte er Pädagogik in Frankfurt am Main, wo er auch heute noch lebt. Einen weiteren Wohnsitz hat er am Gardasee. 2001 erschien „Parlando“, die Geschichte eines Sohnes, der seinem Vater und dessen vielen Geliebten nachspürt. Kirchhoff selbst hält es für sein wichtigstes Buch. Parallel zu und in Anspielung auf Martin Walsers „Tod eines Kritikers“ nahm Kirchhoff mit „Schundroman“ (2002) die Eitelkeiten des Literaturbetriebs aufs Korn. Weite Beachtung fand „Die Liebe in groben Zügen“ (2012) sowie die Novelle „Widerfahrnis“, für die er 2016 den Deutschen Buchpreis erhielt. Am kommenden Freitag wird Bodo Kirchhoff 70 Jahre alt.