Herr Grau, wann mussten Sie sich zuletzt über Kitsch ärgern?
Heute noch gar nicht. Aber das liegt vermutlich daran, dass ich noch keine Zeit hatte, in die Zeitung zu schauen. Denn im Grunde erleben wir heutzutage kaum eine politische Debatte ohne sprachlichen Kitsch. Doch abgesehen davon: Die massivste Ballung politischen Kitsches erleben wir derzeit beim Thema Umweltschutz.
Was genau ist daran Kitsch?
Die Rhetorik. Bei Kitsch denken wir zunächst an ästhetischen Kitsch, an Hummel-Figuren, Gartenzwerge und dergleichen. Kitsch will starke Gefühle erzeugen, er ist einfältig und massenkompatibel. Bei politischem Kitsch verhält es sich ganz ähnlich. Besonders deutlich wird das bei der radikalen Sprache der Klimaschutzbewegung. Das liegt auch daran, dass das Thema Natur latent kitschaffin ist, zumal, wenn es moralisch aufgeladen wird.
Sie führen das Wort Moral an. Kann sie wirklich überzogen sein oder sollten wir bei ihr nicht um jedes Stück kämpfen?
Wir alle wissen, dass Moral sehr totalitär werden kann. Denken Sie nur an den Puritanismus vergangener Jahrhunderte. Und auch heutzutage gibt es wieder zahlreiche Bewegungen, die im Namen ihrer Moral mit autoritären Forderungen daherkommen und offen Prinzipien der Demokratie infrage stellen.
Wo geschieht das?
Denken Sie nur an die Ereignisse um Bernd Lucke in Hamburg oder Thomas de Maizière in Göttingen. Oder – anderes Thema – wiederum die Klimaschutzdebatte. Hier wird durch einige Aktivisten suggeriert, dass wir uns in einer Art Notstandssituation befinden, die es legitimiert, demokratische Verfahren außer Kraft zu setzen.
Wer konkret sagt das?
Im Umfeld von „Fridays For Future“ gab es tatsächlich die Idee, die Leugnung des Klimawandels unter Strafe zu stellen. Oder Roger Hallam, Mitbegründer von „Extinction Rebellion“. Der sagt ganz klar, Klimawandel sei größer als die Demokratie. Das ist gefährlich, weil es der Demokratie ebenso schadet wie dem Umweltschutz.
Politik gilt als Kunst des Kompromisses, Kitsch dagegen zeichnet sich durchs Extreme aus. Ist politischer Kitsch also nicht ein Widerspruch in sich?
Ja. Politkitsch ist im Kern unpolitisch. Er weigert sich, die Spielregeln der Politik zu akzeptieren. Daher ist er auch das bevorzugte Kommunikationsmittel autoritärer Regimes. Denken Sie an das Dritte Reich, an die Sowjetunion, die DDR, an Nordkorea. Demokratie dagegen ist der Versuch, der Versachlichung und Differenzierung. Gerade die Bonner Republik mit ihren sich betont nüchtern gebenden Regierungen hatte das tief verinnerlicht.

In der US-amerikanischen Demokratie stellt sich das durchaus anders dar.
Das stimmt, gerade die alten Demokratien haben interessanterweise eine eigene Form des Staatspathos entwickelt, das uns Deutschen als aufgetragen erscheint. In Deutschland kommt der politische Kitsch daher meist von der Straße. Bei uns sind es die Lichterketten, Schweigemärsche, Blockaden und andere Polit-Happenings, die sich häufig einer dramatischen, rührseligen und eben zutiefst kitschigen Symbolik bedienen.
Warum?
Weil man auf sich aufmerksam machen möchte und weil Kitsch emotionalisiert. Insoweit ist das sogar verständlich: Mit differenzierten Botschaften kommt man in unserer Mediengesellschaft tatsächlich nur schwer durch.
Sie sprechen von den nüchternen Bundeskanzlern. Dabei lassen Sie außer Acht, dass einer von ihnen in Warschau mit einem Kniefall ein emotionales Zeichen gesetzt und viel für die Aussöhnung zwischen Ost und West getan hat!
Über die Einordnung von Willy Brandts Kniefall am Ehrenmal für die Toten des Warschauer Ghettos habe ich tatsächlich länger nachgedacht. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es sich nicht um politischen Kitsch handelt: Bei Brandt ist sein Hintergrund entscheidend. Seine Biografie macht die Geste ehrlich und authentisch.
Warum nehmen Sie Willy Brandt ab, was Sie den Jugendlichen von „Fridays For Future“ verweigern?
Brandts Kniefall war deshalb so überzeugend, weil er Demut ausdrückte. Man nahm ihm ab, dass es nicht um das Schüren von Empörung ging oder den Effekt. Das ist bei Bewegungen wie „Fridays For Future“ anders. Die wollen missionieren, die wollen Emotionen schüren und einfache Lösungen. Darin besteht eine Gefahr. Das will polarisieren und lädt zur Komplexitätsverweigerung ein – ganz anders als die Geste Brandts.

Nun fällt auf, dass Sie genau dieses Prinzip vor allem bei linksliberalen Gruppen kritisieren. Gibt es denn keinen rechten Kitsch?
Natürlich. Konservative Themen wie Heimat sind an sich schon kitschverdächtig. Heute allerdings sehe ich bei den Rechten allenfalls misslungenen Kitsch. Wenn ich etwa an Björn Höcke denke, wie er zu einem Heimatfilm in eine Halle einzieht: Das ist so albern, dass man es eigentlich nicht mal mehr als kitschig bezeichnen möchte. Das ist allenfalls unfreiwillig komisch.
Warum?
Kitsch muss zeitgemäß sein, um zu funktionieren. Generell gilt: Konservative und Rechte neigen dazu, alte, überholte Kitschsymbole zu verwenden. Ihr Problem ist es, eine zeitgemäße konservative emotionalisierende Symbolik zu finden, die sich vom linksliberalen Kitsch unterscheidet. Das scheint enorm schwierig zu sein. Die AfD pendelt daher zwischen versuchter Sachlichkeit, Schwarzrotgoldfähnchen und biederer Heimatseligkeit.

Politischer Kitsch ist also immer auch auf einen gesellschaftlichen Resonanzboden angewiesen?
Natürlich. Als in den 60er-Jahren die Happening-Kultur aufkam, hatte das mit Kitsch wenig zu tun. Denn das öffentliche Meinungsbild wurde von Konservativen beherrscht, die sich durch diese Art der Agitation provoziert fühlten. Die Gefahr, dem Kitsch zu verfallen, ist immer bei denen größer, die im Besitz der kulturellen Deutungshoheit sind. Das waren vor 50 Jahren die Konservativen, heute ist es eher das linksliberale Neubürgertum.
Sie haben kürzlich dem Bremer „Weser-Kurier“ ein Interview gegeben. Daraufhin meldete sich der Erste Bürgermeister persönlich auf Facebook zu Wort.
Tatsächlich? Wahrscheinlich hat er nicht applaudiert?
So ist es. Er wirft Ihnen vor, jungen
Klimaschützern gefährlichen Kitsch
vorzuwerfen, Trump und Erdogan aber ungeschoren davonkommen zu lassen. Hat er da nicht einen Punkt?
Kitsch muss etwas Positives in sich tragen, das die Übertreibung erst möglich macht: Schönheit, Heimat, Natur. Und das Ziel von „Fridays For Future“ ist in diesem Sinne positiv: eine lebenswerte Umwelt. Donald Trump hingegen ist ungehobelt, narzisstisch und ordinär, aber nicht kitschig. Und Erdogan? Der mag gefährlich sein, zynisch und brutal. Kitschig ist aber auch der nicht!

Ein anderer Punkt des Bremer Bürgermeisters: Sie sehen den politischen Kitsch auch als Folge des Massenwohlstands. Dabei gehe es doch in der Klimadebatte um eine existenzielle Frage!
In Indien tut sich „Fridays For Future“ enorm schwer. Das liegt daran, dass die meisten Menschen dort andere Sorgen haben. Die Klimabewegung ist ein Protest der Gutsituierten, denen aus dem Blick geraten ist, dass Wohlstand kein Naturzustand ist. Wer etwa die Dekarbonisierung Deutschlands fordert, sollte bedenken, was geschieht, wenn Papa morgen arbeitslos ist. Spätestens dann hat sich „Fridays For Future“ erledigt, jede Wette.
Wie können Jugendliche Kitsch vermeiden und trotzdem demonstrieren? Sie können ja schlecht jedes Mal zu einer Podiumsdiskussion einladen!
Warum nicht? Das wäre schon mal was! Allein das Signal, andere Meinungen für legitim zu halten, würde einem kitschigen Weltbild entgegenwirken und das Komplexitätsbewusstsein fördern. Davon abgesehen: Das Problem ist ja gar nicht so sehr „Fridays For Future“. Es besteht vielmehr in Institutionen, die reflexhaft darauf anspringen und dem Zeitgeist hinterherrennen. Von Politik, Unternehmen und Medien erwarte ich jedoch, dass sie auch das Kleingedruckte im Blick haben.
