Nahezu 90.00 Titel kommen hierzulande jährlich auf den Buchmarkt. 156 davon diskutierte die Jury des Deutschen Buchpreises. Am Ende blieben sechs Bücher übrig. Anfang der Woche, als Prolog für die Buchmesse, wurde das Siegerbuch genannt: Bodo Kirchhoff: "Widerfahrnis". Frankfurter Verlags-Anstalt. 224 S., 21 Euro. Damit konnte man rechnen, sagen die einen, von Überraschung sprechen die anderen. Ob das Buch lesenswert ist – das entscheidet jeder Leser für sich. Der Platz auf der Bestenliste gibt nicht über die Qualität eines Werks Auskunft, sondern über die Verkaufszahlen.
Da liegt Elena Ferrante mit ihrem Roman "Meine geniale Freundin" (Suhrkamp, Berlin. 422 S., 22 Euro) mit mehr als einer Viertelmillionen verkauften Büchern weit vorne. Damit hat der Verlag einen Glücksgriff getan. Das Buch, angeblich das bestehe Porträt einer Frauenfreundschaft in der modernen Literatur (New York Times), wird auf der Messe entsprechend repräsentativ ausgestellt. Das ist nicht das Ende vom Lied. "Meine geniale Freundin" ist der erste Band der Neapolitanischen Sage der Autorin, die wohl unter Pseudonym veröffentlicht. Hinter dem Namen verbirgt sich angeblich die Übersetzerin Anita Raja, wie ein Journalist herausgefunden haben will. In Frankfurt gibt es Stimmen, die behaupten, das sei der beste Marketing-Gag aus der Welt der Literatur seit Jahren: eine Frau, die eine Besteller-Tetralogie schreibt und sich nicht zeigen will.
Flandern und die Niederlande bereichern als Ehrengast die Buchmesse. Arnon Grünberg, 45, hat für sein Land die Messe eröffnet – und wurde so automatisch zum Gesprächsthema. Dabei lebt der Amsterdamer in New York. Seine Werke wurden in 27 Sprachen übersetzt – das könnte nun auch mit seinem Mutter-Roman "Muttermale" (Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln. 448 S., 24 Euro) geschehen. Dass seine Mutter Hannelore Grünberg-Klein zeitgleich ihre ursprünglich für die Familie geschriebenen Lebenserinnerungen unter dem Titel "Ich denke oft an den Krieg, denn früher hatte ich dazu keine Zeit" (Kiepenheuer & Witsch, Köln, 176 S., 17,99 Euro) veröffentlicht, ist ein schöner Zufall. Grünberg-Klein, die das KZ Theresienstadt überlebt hat, starb im vergangenen Jahr.
Sie wird als Entdeckung gefeiert – in den Feuilletons, aber auch in Frankfurt: Han Kang, 45, mit ihrem als Triptychon verfassten Roman "Die Vegetarierin" (Aufbau Verlag, Berlin. 190 S. 18,95 Euro). Es ist ein seltsam verstörendes, hypnotisierendes Buch über eine Frau, die an Durchschnittlichkeit kaum zu übertreffen ist, bis sie eines Tages beschließt, kein Fleisch mehr zu essen. Der Roman wurde mit dem Man Booker International Prize 2016 ausgezeichnet. Es würde wundern, wenn dieses kafkaeske Stück hierzulande nicht zu einem Renner werden würde – nicht nur bei Vegetariern.
Nicht der Dauerkandidat Philip Roth, sondern Bob Dylan, 75, hat den Nobelpreis für Literatur gewonnen, der einflussreichste Songwriter des 20. Jahrhunderts. Darauf waren die deutschen Verlage zwar nicht vorbereitet, aber einige Titel gibts noch. Heinrich Deterings gute alte Edition "Bob Dylan. Lyrics" (Reclam, Stuttgart. 155 S., 4,60 Euro) etwa oder seine Biografie "Bob Dylan" (Reclam, Stuttgart. 215 s., 16,95). In dem prächtig ausgestatteten zweisprachigen Band "Lyrics 1962-2001" (Hoffmann & Campe, Hamburg. 1151 S., 20 Euro) sind sämtliche Songtexte enthalten, die Dylan zwischen 1962 und 2002 geschrieben hat. Alles etwas angestaubt, aber immer noch lesenswert. Bruce Springsteen, 67, US-Rocker, war übrigens einer der ersten, der Dylan gratulierte. Die Messe stellt seine vielbesprochene Autobiografie "Born to Run" aus (Heyne, München. 672 S., 27,99 Euro).
Auch Don DeLillo, 79, Star der literarischen Postmoderne und immer wieder als Kandidat für den Nobelpreis genannt, ging in diesem Jahr leer aus. Von ihm sind inzwischen sechzehn Romane veröffentlicht. Sein neues Buch heißt – "Null K" (Kiepenheuer & Witsch. Köln. 280 S., 20 Euro) – es gilt als sein bisher bestes. Darin beschreibt er einen Milliardär, der mit einer viel jüngeren Frau verheiratet ist. Sie wird schwer krank. Der Milliardär ist Inhaber eines Unternehmens, das den Tod ausschalten will. Sterbende lassen sich einfrieren und erst wieder zum Leben erwecken, wenn Medizin und Technik so weit sind, dass der Mensch ein ewiges Leben führen kann. Seine Frau will sich diesem Procedere unterziehen...
Der Mensch lebt nicht allein von Belletristik. Die Messe blickt auf das kommende Jahr, in dem 500 Jahre Reformation gefeiert wird und hat etliche spannende Sachbücher in den Regalen. Der Name Martin Luther nimmt dabei den breitesten Raum ein. Unter den vielen Titeln, die sich auf 500 Jahre Reformation einspielen, ragt LyndalRopers Biografie "Luther. Der Mensch Martin Luther" (S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main. 736 S., 28 Euro) heraus. Die sechzigjährige Geschichtsprofessorin im englischen Oxford zeigt, wer Luther wirklich war und warum gerade er zum großen Reformator wurde, der die Welt aus den Angeln hob. Roper hat sich aufgemacht, Luthers ganze Persönlichkeit zu verstehen.
Und ein zweites Geschichtswerk findet große Beachtung: Ian Kershaws "Höllensturz. Europa 1914 bis 1949" (DVA, Frankfurt. 768 S., 34,99 Euro). Der 63-jährige britische Historiker erzählt nicht nur meisterhaft, sondern auch verständlich die Geschichte unseres Kontinents vom Vorabend des Ersten Weltkriegs bis in die Zeit des beginnenden Kalten Kriegs Ende der vierziger Jahre, nachdem die europäische Zivilisation an den Rand der Selbstzerstörung gelangt war. Der "Spiegel" lobte: "Ein flammendes Plädoyer für Europa, gerade in den Zeiten einer gefährlichen Erosion der europäischen Idee."
Und zuletzt: Wolf Biermann. Der Barde wurde eben 80 Jahre alt. Aus und zu diesem Anlass hat er eine Autobiografie verfasst ("Warte nicht auf bessre Zeiten!". Propyläen, Berlin. 576 S., 28 Euro), in der er gleichermaßen auf die ihm eigene Art und Weise Geschichte (und Geschichten) sowie Persönliches vergegenwärtigt. Doch damit nicht genug Biermann, der sich heute nachmittag mit einem Messebesuch angekündigt hat. Es gibt auch ein frisch aufgelegtes Buch mit seinen Liedern und Gedichten ("Im Bernstein der Balladen". Propyläen, Berlin. 235 S., 24 Euro). Da ist zwar (noch) nicht nobilitiert, aber lesenswert allemal. Und wer will, darf die Lieder auch singen...
Und zu allerletzt ein Geheimtipp: Arnold Stadlers Roman "Rauschzeit" (S. Fischer, Frankfurt/Main. 552 S., 26,00 Euro). Sein Denkmal an die Liebe war immerhin auf der Longlist des Buchpreises...