Auf diesem Bild stimmt gar nichts. Die Gebirgskette passt nicht recht zum Alpenpanorama, das Gewässer nicht zum Bodensee, der Kegelberg nicht zum Hohentwiel. Und doch weiß jeder sofort: Es ist der Hegau, er muss es sein!
Die bewusst falsch komponierte Idylle des Malers Matthias Holländer führt vor Augen, wie wenig es bedarf, damit wir unser Heimatbild erfüllt sehen. Es genügt bisweilen eine Erhebung mit bloßer Ähnlichkeit zum Hohentwiel. Der Berg wirkt wie ein Dreh- und Angelpunkt der ganzen Region, ohne ihn wäre die Landschaft nur halb so kalendertauglich. Eine Ausstellung im Kunstmuseum Singen zeigt jetzt, wie enorm sich unser Bild vom Berg und damit auch von seiner Umgebung im Laufe der Jahrhunderte gewandelt hat.
Das fängt schon damit an, dass wir überhaupt vom Berg reden – statt von der auf ihm befindlichen Festungsruine. Funktioniert Matthias Holländers Hegau-Anmutung auch ganz ohne Gemäuer, so zog dieses im 17. Jahrhundert noch das ganze Interesse des Betrachters auf sich. „Den Berg beachtete niemand“, sagt Museumschef Christoph Bauer: „Lange Zeit zählte allein die Burg.“
So konzentrierte sich Matthäus Merian der Ältere in seinem Kupferstich „Die Belagerung der Vestung Hochen Twiel im Jahr 1641“ auf den gewaltigen Bau mit seinem massiven Bollwerk. Und statt – wie Holländer – mit raffinierten Verfremdungstechniken auf sich aufmerksam zu machen, wählte er lieber einen ungewöhnlichen Blickwinkel. Merians Festungsanlagen aus der Vogelperspektive mögen uns zwar heute ein wenig verzerrt anmuten. Für eine Zeit aber, in der Künstler (lange vor den ersten Pionieren der Luftfahrt) bei solchen Abbildungen noch ganz auf ihre eigene Vorstellungskraft angewiesen waren, ist sie bemerkenswert gelungen.

Singen stand lange im Abseits, viel mehr als eine Handvoll Häuser ist auf den Werken kaum zu sehen. Kein Wunder: Die Stadt gehörte zu Österreich, die Festung dagegen lag in württembergischer Hand. Wer sie besuchen wollte, hatte lange Zeit schlechte Karten, bis ins frühe 19. Jahrhundert hinein war der Hohentwiel militärisches Sperrgelände, die Burg wurde unter anderem als Staatsgefängnis genutzt.
Als die Touristen kamen
Mit ihrer Schleifung durch Napoleons Truppen begann sich das zu ändern. In Bildern von Johann Georg Ott sehen wir Menschen im feinen Zwirn am Hohentwiel flanieren: Touristen! Indem sie die schon bald überwucherten Mauerfragmente besichtigen, gehen sie einer seltsamen Mode nach.
Ruinen nämlich hatten bislang eher als hässliche Dokumente des Scheiterns gegolten. Mit der Romantik gewannen sie eine metaphorische Bedeutung, der empfindsame Bürger erkannte in den verfallenen Gemäuern die zeitliche Begrenzung seines eigenen Lebens. In Bildern von Künstlern wie Nikolaus Hug wird diese Entwicklung sichtbar. Auch beginnt der Fokus sich zu weiten, gegenüber der Burg rückt jetzt die Natur mehr und mehr in den Vordergrund.
Abendstimmung als begehrtes Landschaftsmotiv
So zeigt sich die Begrenzung allen Lebens nicht allein in verfallenen Gemäuern, sondern auch in der untergehenden Sonne: Die Abendstimmung wird im 19. Jahrhundert zum begehrten Landschaftsmotiv. Ölgemälde von Friedrich Thurau und Joseph Mosbrugger zeigen den Hohentwiel als Blickfang am Ende des Untersees. Im rosaroten Dämmerlicht sehen wir Landwirte und Fischer bei der Arbeit, einsam am Bildrand empor ragende Bäume verleihen der Szene einen Hauch von Toskana. Man weiß nicht ganz: Kunst? Oder Kitsch?
Subtile Zumutung
Manch subtil gesetzte Zumutung vermag der heutige Betrachter gar nicht mehr zu erschließen: Auf dem See kreisende Dampfschiffe wirken romantisch, waren aber damals als Insignien der Industrialisierung ein kleiner Affront gegen die Sehnsucht nach Naturerleben.
Kunst oder Kitsch: Diese Frage stellt sich in den Hohentwiel-Darstellungen des 20. Jahrhunderts nochmals auf ganz neue Weise. In den neusachlich anmutenden Bildern von Heinrich Lotter offenbart der Hegau seine ganze landwirtschaftliche Prägung. Es ist noch die Zeit der kleinteiligen Feldwirtschaft. Die Nazis sahen darin eine ästhetische Realisierung ihrer Ideologie: der deutsche Bauer, wie er im Schweiße seines Angesichts seine Scholle bewirtschaftet – der Hohentwiel als wuchtiges Symbol der heimatlichen Unverwüstbarkeit. Im Fall Lotter, sagt Museumschef Christoph Bauer, war diese Interpretation mehr eine Vereinnahmung. Künstler wie Karl Möritz dagegen bedienten die Erwartungen ganz bewusst.
Angesichts dieses Missbrauchs von Idylle ist insbesondere der Umgang mit der Landschaftsmalerei in der Nachkriegszeit interessant. Otto Dix schließt nur scheinbar an die Romantik an, wenn er den Hohentwiel im Abendlicht aus dem Dunst ragen lässt. Wer genau hinsieht, bemerkt erstens im Unterschied zu Romantikern wie Friedrich Thurau eine eigenartige Distanz zur gezeigten Landschaft: Direkt am unteren Bildrand versperrt ein Kornfeld wie eine Schranke die Sicht auf weitere Details. Zweitens lassen manche Motive eher an die Ikonografie Alter Meister denken. Wer denkt beim Anblick des Landwirts mit seiner Sense nicht unwillkürlich an den Schnitter Tod?
Die Idylle ist seit ihrem Missbrauch brüchig geworden. Künstler wie Helmut Schlichtherle und Hans Leo Krattner thematisieren heute Eingriffe in die Natur durch den Bau von Autobahnen und Windrädern. So rückt das menschengemachte Bauwerk nach rund 200 Jahren plötzlich wieder in den Vordergrund der Hohentwiel-Rezeption: diesmal nicht aus Bewunderung. Sondern aus Unbehagen.