Der Bodensee ist ein Lehrmeister, und seine wichtigste Lektion lautet: Misstraue der Idylle! Eva Gesine Baur, die aktuelle Trägerin des Bodensee-Literaturpreises, sagt, im hiesigen Nebel stellten sich die Dinge oft „ganz anders dar, als sie tatsächlich sind“. Ähnliche Erfahrungen finden sich auch in den Werken anderer Schriftsteller mit See-Erfahrung – wie etwa Martin Walser oder Bodo Kirchhoff.

Wie aber sind die Dinge tatsächlich? Wie stellen sie sich in unserer Region dar? Für die Gegenwart mag auf diese Frage jeder seine eigene Antwort geben. Für die Vergangenheit dagegen liegt jetzt eine aufschlussreiche Darstellung vor: „Ein Mai in Konstanz“ lautet der Titel eines Romans, der die Alltagswirklichkeit am See im Mai 1965 beschreibt. Figuren und Handlung sind größtenteils erfunden, der historische Rahmen aber ist real, und die aufgezeigte gesellschaftliche Grundstimmung entspricht den Berichten vieler Zeitzeugen.

Als großen Nebelwerfer jener Zeit macht Autor Jürgen Seidler die Kirche aus. Sie entscheidet über Richtig und Falsch, Gut und Böse, Seligsprechung und Verdammnis. Beate zum Beispiel darf ihren Anton nicht heiraten, weil der katholisch ist – sie aber evangelisch. Antons Vater, der als Steinmetz und Baumeister das Konstanzer Münster saniert, kann solch einen Frevel in seiner Familie nicht dulden.
Was „auf einen Kaffee“ bedeutet
Da hilft es auch nichts, dass längst ein Enkelkind zur Welt gekommen ist. Auf der Fasnacht hatten sich Beate und Anton kennengelernt. Schon nahm sie ihn mit auf ihr Zimmer – „auf einen Kaffee“, wie sie sagte. Man mache das so mit jungen Männern, hatte sie gehört. Was genau „auf einen Kaffee“ bedeuten würde, wurde ihr erst später klar.
Kein Leben ohne Trauschein
Im Mai 1965 ist der kleine Bruno schon drei Jahre alt. Doch Anton, seinen Vater, kennt er nur flüchtig: An ein gemeinsames Leben ist ohne Trauschein nicht zu denken, die Erziehung übernimmt die Großmutter. Und weil ein Leben mit Kind, aber ohne Mann, ja gar kein Zustand ist, macht sie sich schon daran, den feinen Herrn Bäuerle aus dem Spielzeugladen als Ersatzbräutigam für ihre Tochter zu gewinnen.

Aber es gibt noch eine Alternative, und niemand zeigt sie deutlicher auf als ein prominentes Ehepaar, das gerade am See für Furore sorgt: Elizabeth II., Königin von England, ist mit ihrem Gemahl Prinz Philip zu Gast. Dieser hatte einst die Eliteschule von Salem besucht. Vor allem aber war er bereit, für seine große Liebe die Konfession zu wechseln: von griechisch-orthodox zu anglikanisch. Warum sollte Beate nicht gelingen, was einem Prinzen geziemt?

Doch so einfach wird aus einer Protestantin keine Katholikin. Unverheiratet und Mutter: Dieser Umstand lässt beim Pfarrer Sernatinger die Alarmglocken schrillen. Eine Sünderin begehrt da Aufnahme, eine skrupellose Verführerin! Seidler, gebürtiger Konstanzer, erzählt das bemerkenswert sachlich, fernab jeder Rührseligkeit.
Fenster in die Vergangenheit
Seine Figuren entwickeln ihre Konturen allein aus der Logik ihrer gesellschaftlichen Umstände heraus, Stück für Stück. Gerade diese Distanz des Erzählers zum Geschehen rettet diesen Roman vor Sentimentalität und Kitsch und verleiht diesem Sittenbild seine Glaubwürdigkeit: Es ist, als öffne sich unversehens ein Fenster in die Vergangenheit.
Hollywoodreifes Trio
Da macht es auch nichts, dass manche Wendung gleichwohl konstruiert erscheint. Im Gegenteil: Weil die Wirklichkeit in dieser Zeit einen Blick unter die Oberfläche nie zugelassen hat, bedarf es einiger dichterischer Fantasie, um die wahren Hintergründe dieser aus heutiger Sicht so verquer anmutenden Vorstellungen von Religion und Moral offenzulegen. Seidler bedient sich dafür eines Frauen-Trios – Beates Mutter und ihre beiden Schwestern –, das mit Bespitzelungen, Einbrüchen, ja sogar Bombenanschlägen so hollywoodreif wie unwahrscheinlich die Wahrheit ans Licht befördert.
Bald zeigt sich: Männern wie Antons Vater geht es gar nicht um Religion und Moral, wenn sie ihren Kindern die Eheschließung verweigern. Die hehren Werte sind bloß Platzhalter, Nebelkerzen, hinter denen die eigentlichen Motive, Hoffnungen und Ängste verschwinden sollen.
Wahrheit hinter der Idylle
Denn über diese lässt sich schwer sprechen in einer Gesellschaft, die mit ihrer Geschichte ringt. Die Idylle zeigt ein gottesfürchtiges Volk, dem Ehe und Familie heilig ist. Die darunterliegende Wahrheit dagegen zeigt Täter und Mitläufer der NS-Herrschaft, die ihre Enttarnung fürchten müssen.

Jürgen Seidler hat bislang fürs Fernsehen gearbeitet, als Produzent und Dramaturg, aber auch als Drehbuchautor für Serien wie „Der Landarzt“. Seien wir ehrlich, so etwas nährt den Kitschverdacht. Eine unbegründete Sorge in diesem Fall: „Ein Mai in Konstanz“ hat Tiefe, Witz und sprachliche Präzision – ein beachtliches Romandebüt.