Kaffeesatz- und Handlinienleser haben es schwer in unseren aufgeklärten Zeiten. Und doch gibt es noch immer ein Feld, in dem unser Glaube an die Kraft der Vorausahnung ungebrochen ist: die Kunst.
Kunst aus der Glaskugel
Zahlreiche Werke der Weltliteratur wirken in ihrer exakten Beschreibung höchst aktueller Konflikte, als habe ihr Schöpfer einst in die Glaskugel geschaut. Und manches Werk der bildenden Kunst scheint heutigen Vorstellungen näher zu stehen als den Stilformen seiner Zeit. Aber hat Malerei es auch vermocht, allein durch ihre Ästhetik künftige Katastrophen vorwegzunehmen?
Freundschaft zwischen Picasso und Braque
Eine aktuelle Ausstellung im Basler Kunstmuseum lässt das vermuten. Sie handelt von der Entstehung des Kubismus, eigentlich aber von der Freundschaft zwischen Pablo Picasso und Georges Braque. Die beiden Maler waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts der traditionellen Formen gegenständlicher Malerei überdrüssig geworden.
Schon lange hatte die Kunst nach Antworten gesucht auf neue Herausforderungen wie etwa das Aufkommen der Fotografie. Künstler wie Paul Gauguin und Vincent van Gogh hatten die künstlerische Empfindung über das reale Abbild gestellt. „Ziehen Sie das Kunstwerk aus der Natur heraus, indem Sie vor ihr nachsinnen und träumen“, lautete ein Rat von Gauguin.
Doch sie alle sind Gefangene der Konturen ihrer Figuren und Objekte geblieben, mochten sie auch noch so gewagte Farben, Formen und Techniken für noch so traumartige Szenen verwenden. Wie könnte man sich dieser Fesseln entledigen?
Archaische Kühnheit
Picasso und Braque fanden zwei Vorbilder. Zunächst in jener Kunst, für die sich schon Gauguin begeistern konnte: Skulpturen und Masken aus Afrika und Polynesien, grob geschnitzt und scharf konturiert, von wilder archaischer Kühnheit. Ihre Ästhetik findet sich wieder in Aktgemälden des Jahres 1908. Die weiblichen Formen werden mit dicken schwarzen Linien markant eingefasst. Braque verleiht zumindest dem Gesicht noch noch so etwas wie zarte Anmut, Picasso dagegen malt maskenhafte Mienen mit kantigen Nasen und grob umrissenen Augen.
Monströs zersplitterte Welt
Das Vorbild Nummer zwei: Paul Cézanne. Zum sogenannten Primitivismus der Kunst aus den Kolonien scheint seine Kunst nur auf den ersten Blick weit entfernt zu sein. Tatsächlich gibt es gerade in der Reduktion auf einfache geometrische Formen viele Ähnlichkeiten: Alles ist Zylinder, Kugel oder Kegel bei Cézanne, ein filigranes Geflecht aus kleinsten Farbflächen.
Auch diese Technik parodieren die beiden Freunde im Sommer 1908 mit bemerkenswerter Präzision. Braque malt ein Viadukt, Bäume, Häuser. Bei Picasso entstehen bald Stillleben mit Brot und Obstschalen im Stil Cézannes.
Umrisse lösen sich auf
Und dann führt Picasso eines Tages im Jahr 1909 die beiden Linien zusammen. Ein Porträt seiner Muse Fernande Olivier vereint Elemente der afrikanischen Bildhauerkunst mit der verschachtelten Geometrie Cézannes. Die äußere Form zeigt schon Anzeichen ihres Aufbrechens, schon wenige Werke später sind die Umrisse einer Person oder eines Objekts kaum noch zu erkennen.
Picasso und Braque stacheln sich wechselseitig an zu immer radikaleren Variationen einer Stilrichtung, die ein Kunstkritiker schon im selben Jahr mit dem Namen Kubismus (abgeleitet vom lateinischen Wort „Cubus“ für Würfel) versieht. Es mag Zufall sein, doch Bilder mit vermeintlich harmlos heimelig anmutenden Titeln wie „Krug und Violine“ (Georges Braque, 1909/10) oder „Akkordeonspielerin“ (Pablo Picasso, 1911) zeigen unvermittelt eine monströs zersplitterte Welt, wie sie für die Moderne typisch werden sollte. Man erkennt darin das Chaos der Großstadt mit ihren Häuserschluchten, Stahlgerüsten und Hell-Dunkel-Kontrasten.
Was auch immer sie von jetzt an entscheiden: Jedes neue Element verstärkt nur den geradezu prophetischen Eindruck ihrer Kunst. Etwa George Braques Vorliebe für Buchstaben, die er mal unsortiert, mal zu Wörtern geordnet in seine Bilder einfügt. Unweigerlich denkt der Betrachter an die Plakatkultur der Kommunikationsgesellschaft in den – ja erst noch kommenden – Goldenen Zwanzigern. Oder der Griff zu bislang als ungeeignet verfemten Materialien wie Sand und Wellpappe: Sie sind die Grundlage einer Collagetechnik, die in der Postmoderne zum bevorzugten Stilmittel werden soll.
Bald wird Kubismus zur Mode
Bald bedienen sich Künstler wie Francis Picabia oder Robert Delaunay (für seine Eiffelturm-Serie) kubistischer Techniken. Das Denken und Malen einer Wirklichkeit in kleinsten geometrischen Einheiten wird zur Mode einer ganzen Künstlergeneration.
Und dann bricht der Erste Weltkrieg aus. Der Maler Fernand Léger wird eingezogen, erlebt als Sanitäter die grausame Abnutzungsschlacht von Verdun. Plötzlich scheint ihm, als sehe er in der Realität, was er bislang nur von Leinwänden kannte: „Etwas Kubistischeres als einen Krieg wie diesen gibt es nicht, wo ein Mann mehr oder weniger ordentlich in mehrere Stücke zerfetzt und in vier Himmelsrichtungen geschleudert wird.“ Und um jeden Zweifel an seiner künstlerischen Orientierung auszuräumen, schreibt er an seine Verlobte nach Paris: „Allen den Idioten, die sich fragen, ob ich noch Kubist bin oder sein werde, wenn ich zurückkomme, kannst du sagen: ja, mehr denn je.“
In Wahrheit hat der Kubismus mit dem Ersten Weltkrieg sein Ende gefunden. Die Wirklichkeit hatte jede künstlerische Fantasie überboten.
„Kosmos Kubismus“ läuft bis 4. August im Kunstmuseum Basel. Öffnungszeiten: Di. und Do. bis So. 10-18 Uhr, Mittwoch 10-20 Uhr. Weitere Informationen im Internet unter: http://www.kunstmuseumbasel.ch