Für Goethe war der Streit ein Ausdruck von Gemeinschaft. Er war damit nicht allein. denn schon in der Antike galt die Streitlust als Triebfeder des menschlichen Erkenntnisfortschritts: Platon entwickelte im fünften Jahrhundert vor Christus seine wichtigsten Thesen in erdachten Streitgesprächen von zwei bis vier Kontrahenten.

Streit ist verpönt

Heute ist der Streit verpönt. Das fängt schon in der Kindheit an, wenn wohlmeinende Pädagogen in Kindergärten und Grundschulen Strategien zur „Konfliktvermeidung“ einüben.

Es setzt sich fort in einem Berufsleben, wo schon bei kleinsten Meinungsverschiedenheiten der Mediator zu Hilfe eilt. Und es findet seinen Höhepunkt im Internet, wo jeder Widerspruch zur eigenen Überzeugung gleich als persönliche Beleidigung gilt.

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Als kürzlich die Wochenzeitung „Die Zeit“ im Widerspruch zu dieser grassierenden Empfindlichkeit ein neues Ressort mit dem Titel „Streit“ einführte, bekam sie denselben gleich frei Haus geliefert. Wobei von Streit freilich auch hier wieder keine Rede sein konnte, sondern bloß von der üblichen Empörung: Man dürfe doch diesem oder jenem Diskutanten kein Forum bieten!

Zusammenhalt durch Auseinandersetzung

Die Frankfurter Politikwissenschaftlerin Nicole Deitelhoff sieht in der Entwicklung eine reale Gefahr für unsere Gesellschaft. Diese sei auf den Streit dringend angewiesen. „In der Auseinandersetzung über Unterschiede und im Ausbuchstabieren politischer Werte und Prinzipien, die ein Miteinander über diese Differenzen hinweg erlauben, konstituieren wir Zusammenhalt“, erklärt sie im Wissenschaftsmagazin ihrer Universität.

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„Erst im Konflikt beginnen wir, darüber nachzudenken, wie wir eigentlich zusammenleben wollen“, Deitelhoff. Nachdenken durch Konflikt, Erkenntnis aus Streitlust – dieses platonische Ideal verfolgen nur noch wenige.

Das Streiten abgewöhnt

Stattdessen haben wir uns das Streiten abgewöhnt. „In gewisser Weise ist alles überzivilisiert“, sagt Deitelhoff. „Wir reden nicht mehr über Streit, sondern nur noch über ‚Diskurse‘.“ Niemand wisse mehr, wie er eine echte Konfrontation überhaupt aushalten sollte.

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Der Mangel an Befähigung zum Streit fällt deshalb kaum auf, weil ein anderes Phänomen ihn überdeckt: die sittliche Verrohung. Buchautorin Melanie Mühl („Mitfühlen: Über eine wichtige Fähigkeit in unruhigen Zeiten“, Hanser-Verlag) macht das Phänomen unter anderem am digitalen Wandel fest.

Smartphone ersetzt Gespräche

Mit dem Smartphone in der Hand kann sich der Mensch von seiner Umgebung immer weiter entkoppeln. So haben anonyme Bestellvorgänge bei Online-Versandhändlern wie Amazon längst das beiläufige Gespräch mit der freundlichen Verkäuferin im Laden nebenan ersetzt.

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Selbst eine scheinbar belanglose Situation wie das Warten an einer Bushaltestelle offenbart ein sich wandelndes Selbstverständnis: Die simple Menschenbeobachtung ist aus der Mode gekommen, seit ein Smartphone jederzeit die Beschäftigung mit sich selbst ermöglicht.

Kultur der Abschottung

Die vom digitalen Wandel beförderte Vereinzelung des Menschen geht mit einer steigenden Rücksichtslosigkeit gegenüber unserer Umwelt einher. Der raue Ton ist deshalb nicht etwa das Symptom einer zunehmenden Lust am Streit. Im Gegenteil: Er steht für eine Kultur der Abschottung und der selbst erwählten Einsamkeit.

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Niemand mag das zwar zugeben, zu hoch im Kurs steht noch das Ansehen eines konstruktiven Streits. Empfindliche Gemüter, die alles daran setzen, jegliche Konfrontation zu vermeiden, greifen deshalb zu einem Rechtfertigungstrick. Schon immer nämlich war nur eine bestimmte Form des Streits geachtet: Der antike Dichter Hesiod nannte sie die „nützliche“ – im Gegensatz zu der „verderblichen“.

Nützlicher und verderblicher Streit

Während der nützliche Streit den Menschen bildete, mündete der verderbliche Streit in Gewalt und Zerstörung. Platon hat gezeigt, wie nützlicher Streit aussehen kann. Von Kain dagegen, der seinen Bruder Abel erschlug, kennen wir den verderblichen.

Gewaltbegriff ausgedehnt

Nun hat man unter Gewalt in der Streitkultur in der Vergangenheit einen physischen Vorgang verstanden. Seit Sigmund Freud jedoch wurde unser Gewaltbegriff immer weiter ausgedehnt. Heute besteht Einigkeit darin, dass Gewalt, ja sogar Zerstörung auch verbal und sogar allein schon durch bloß Missachtung entstehen kann.

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So richtig diese Ausdehnung des Gewaltbegriffs in der Sache ist: Der Missbrauch ist in ihr bereits angelegt. Mit dem Verweis auf diverse psychische Formen von Gewalt lässt sich praktisch jedes Bemühen um konstruktive Auseinandersetzungen diskreditieren. Gewalt kann inzwischen schon allein darin bestehen, einer missliebigen Person „ein Forum zu bieten“.

Antiliberale Meinungen

Nicole Deitelhoff sieht solche Verweigerungsstrategien vor allem im linken Meinungsspektrum am Werk. Es gebe dort die Auffassung, „bestimmte Meinungen sollte man von Vornherein ausschließen, weil sie als nichtdemokratisch oder antiliberal gelten“.

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Sollen wir also mit jedermann argumentativ in den Ring steigen, ganz gleich, wie verfassungsfeindlich er auch gesinnt ist? Nein, sagt die Frankfurter Forscherin: Auch der Streitlust seien Grenzen gesetzt. Offenkundigen Feinden der Demokratie dürfe man nicht durch falsche Vorstellungen von Partizipation Aufwind verschaffen. Haltungen aber, die nur rechtskonservativ oder rechtspopulistisch seien, „denen müssen wir uns stellen – egal, was wir von ihnen halten“.