Herr Van der Bellen, Sie sind der Sohn des neuen österreichischen Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen. Wie oft sind Sie in letzter Zeit auf den Wahlsieg Ihres Vaters angesprochen worden?
Schon oft. Es haben viele Menschen mitgefiebert.
Bringen die Menschen hier in der Region die zwei Namen zusammen?
Viele auf Anhieb und manche erst mit Verspätung. Die, die fernsehen, erkennen die Ähnlichkeit. Es ist ja nicht nur der Name gleich.
Stimmt, Sie sehen Ihrem Vater sehr ähnlich. Wie ist es für den Sohn, wenn der Vater Bundespräsident von Österreich wird? Glauben Sie, Ihr Leben wird sich dadurch verändern?
Mein eigenes Leben, denke ich, nicht. Aber es wird sicher noch ein bisschen schwieriger, meinen Vater zu treffen.
Haben Sie damit gerechnet, dass Ihr Vater die Wahl gewinnt? Die Prognosen haben eher Norbert Hofer vorne gesehen.
Sagen wir mal so, ich habe es sehr gehofft. Mehr Zuversicht hatte ich, als sich Frau Gertrude zu Wort gemeldet hat. Als ihre Botschaft innerhalb von fünf Tagen über drei Millionen Mal angeklickt wurde, dachte ich, vielleicht begreifen es die Menschen jetzt.
Die Geschichte müssen Sie unseren Lesern kurz erklären.
Gertrude ist eine 89-jährige Frau, deren ganze Familie in Auschwitz umgekommen ist. Sie kam auf das Team meines Vaters zu und sagte, jetzt ist es wieder so weit, dass die versuchen, das Schlechteste im Menschen zum Vorschein zu holen, den Hass, die Missgunst. Die FPÖ hatte vom Bürgerkrieg gesprochen. Getrude hat den Bürgerkrieg in Österreich 1934 erlebt. Sie hat auf sehr einfache, sehr bewegende Weise klar gemacht, dass man solch eine Haltung nicht unterstützen kann.
Wie werten Sie den Wahlausgang? Hat sich Österreich besonnen oder ist es nur mit einem blauen Auge davongekommen?
Komischerweise beides. Wobei ich finde, man darf nicht alle, die Hofer, AfD, Le Pen oder Trump wählen, ins extrem rechte Eck stellen. Da sind viele, die berechtigtes Unbehagen an dem System haben und sich nicht anders zu helfen wissen. Ich finde es falsch, sich so zu äußern, aber ich kann es nachvollziehen. Aber es gibt in Österreich sicher einen harten Kern von 30, 35 Prozent, die auf FPÖ-Linie liegen, und das ist beängstigend. Gleichzeitig ist in diesem Wahlkampf etwas passiert, was ich noch nie erlebt habe: nämlich ein ungeheures ziviles, bürgerschaftliches Engagement. Zigtausende von Leuten, die eigene Videos gedreht und ins Netz gestellt haben, die kreativ wurden, die Theaterstücke geschrieben oder in der U-Bahn gesungen haben, die gar nichts mit Parteistrukturen zu tun hatten. Wenn davon auch nur ein Teil fortgeführt wird, dann hat Österreich wirklich die Chance, sich zu verändern.
Die Probleme im Land, die der FPÖ auch zum Höhenflug verholfen haben, sind mit dieser Wahl nicht verschwunden. Was braucht es Ihrer Meinung nach?
Mein Eindruck ist, dass in Österreich seit vielen Jahren politischer Stillstand herrscht. Dass SPÖ und ÖVP mehr mit der Verwaltung ihrer Pfründe beschäftigt sind als damit, etwas zu verändern. Wenn die Parteien das jetzt als Weckruf verstanden haben, dass die Menschen eine Veränderung erwarten, dann gibt es Hoffnung diesseits der Extremen. Wenn sie glauben, mit dem Sieg meines Vaters haben sie mitgewonnen und können so weitermachen wie bisher, dann wird es ganz, ganz schwierig. Die Arbeitslosigkeit ist in Österreich relativ hoch. Die Leute haben Abstiegsängste.
Wie lange im Vorfeld wussten Sie, dass Ihr Vater kandidieren wollte?
Es gab in Österreich einige, die schon ein Jahr vor der Wahl versucht haben, ihn zu überzeugen. Ich kann nicht sagen, wann seine persönliche Entscheidung gefallen ist. Ich habe im Herbst mit ihm darüber gesprochen und gesagt: Persönlich rate ich dir ab, als Österreicher wünsche ich es mir.
Wie oft haben Sie Kontakt?
Sporadisch per E-Mail, ein gelegentliches Telefonat. Im letzten Jahr war ich zweimal in Wien, zur ersten Stichwahl und dann im Sommer. Als er noch im Parlament war und auch im Europarat, kam er gelegentlich hier auf dem Hof vorbei. Er war schon einige Male hier.
Ihr Vater war ja 19 Jahre jung, als Sie zur Welt kamen. Wie haben Sie ihn als Vater in Erinnerung?
Meine Eltern waren beide sehr jung. Damals war man erst mit 21 volljährig. Mein Vater hat immer schon sehr viel gearbeitet. Gleichzeitig hatte er aber, weil er an der Uni war, große Blöcke frei. Ich habe eigentlich erst im Nachhinein gesehen, wie viel wertvolle Zeit wir miteinander verbracht haben. Meistens waren wir im Kaunertal. Wir haben sehr viel zusammen in der Natur unternommen. Wir haben auch viel Karten gespielt, seit meiner Jugend mit kleinen Einsätzen, damit man weiß, dass es um was geht.
Jetzt hat Ihr Vater auch ein Buch geschrieben „Die Kunst der Freiheit“. Sie sind antiautoritär erzogen worden?
Sagen wir so: Ich hatte sicher erheblich mehr Freiheiten als meine Schulkollegen in den sehr konservativen 60er-Jahren in Tirol. Die Familie protestantisch im tiefkatholischen Tirol. Eine linke Familie im schwarzen Umfeld. In meiner Erinnerung war es nicht so, dass es keine Regeln gab. Antiautoritär erzeugt, glaube ich, die falschen Bilder. Ich kenne regellos aufgezogene Kinder und ich finde viele davon unangenehm und ich hoffe, nicht so gewesen zu sein. Ich würde eher sagen: liberal mit großer Freiheit und großem Vertrauensvorschuss.
Können Sie drei Eigenschaften nennen, die Ihren Vater besonders charakterisieren?
Er ist wahrscheinlich der loyalste Mensch, den ich kenne. Ich schätze sehr seinen Sinn für Humor, der auch vor sich selbst nicht Halt macht. Vor humorfreien Menschen habe ich immer ein wenig Angst. Und ich schätze seine Bereitschaft, hinzuschauen, zu hinterfragen, infrage zu stellen, Antworten zu suchen, wenn es denn welche gibt. Ich glaube, so ein Wort wie „alternativlos“ käme meinem Vater schwer über die Lippen.
Was schätzen Sie am meisten an Ihrem Vater?
Es sind zwei Sachen. Das eine ist, ich bin einfach gern mit ihm zusammen, in nahezu jeder Umgebung. Am Berg oft auch ziemlich still früher. Das ist ein tiefes Mögen, Wertschätzen, wahrscheinlich Liebe, aber eben sehend. Das wächst eher noch, je älter wir werden, nach meinem Gefühl. Das Zweite hat etwas mit der Vater-Sohn-Beziehung zu tun, das ist diese felsenfeste Loyalität.
Was haben Sie von ihm gelernt, mitbekommen?
Auf der intellektuellen Ebene ist es sicher am deutlichsten: mich macht Schwarzweiß-Sehen wahnsinnig. Dieses ständige entweder–oder statt sowohl–als auch. Lieber Grauwerte als schwarz-weiß. Die Liebe zum Film, wobei Filme anschauen in den letzten Jahren weniger wurde, aber in der Jugend war das sehr intensiv. Bei Literatur bin ich etwas fauler als er. Die Liebe zu Thomas Mann hätte ich ohne ihn sicherlich nicht entwickelt. Aber ohne, dass da jemals Druck kam.
Er hat es Ihnen durch sein eigenes Verhalten vorgelebt.
Genau. Wann immer ich ihn gesehen habe und er nicht im Gespräch war, hat er gelesen oder er war draußen in der Natur. Mir ist Loyalität wichtig. Freundschaft heißt wirklich was. Vielleicht auch manchmal Situationen länger durchhalten als notwendig, aus Gründen von Loyalität, von Verpflichtung, von Versprechen.
Hat Ihr Vater Sie politisch geprägt?
Ja, sicher. Allein durch das linke Elternhaus in Tirol war im Gymnasium, in der Unterstufe, schon immer spürbar, wir sind die Linken. Nicht, dass das mit zwölf eine riesige Bedeutung hatte, aber gelernt habe ich dadurch, dass es einen nicht umbringt, eine Minderheit zu sein. Es tut aushaltbar weh, eine Meinung zu vertreten, mit der man allein steht. Es ist nicht angenehm, aber es ist aushaltbar. Bei uns wurde immer viel diskutiert und durchaus auch gestritten.
Und kann Ihr Vater Ihre Meinung auch stehen lassen?
Er ist nicht beleidigt, wenn jemand anders denkt. Was er nicht gut vertragen konnte, war, wenn er das Gefühl hatte, ich plappere etwas nach, ohne es selbst durchdacht zu haben.
Jetzt sitzen Sie selbst seit 2014 im Gemeinderat für die Freie Wählergemeinschaft. Und 2007 haben Sie sich um den Bürgermeisterposten von Eigeltingen beworben. Welchen Stellenwert hat für Sie Politik?
2007 habe ich lange mit meinem Vater geredet, bevor ich mich zu dieser Kandidatur entschieden habe. Er hat damals gesagt, wenn du auch nur die geringste Chance siehst, tu es. Weil auf kommunaler Ebene hat man noch am ehesten die Chance, wirklich etwas zu gestalten. Je weiter du hinaufkommst, desto geringer sind die Spielräume. Und insofern sitze ich auch gerne im Gemeinderat.
Sie sind mit Ihrem Bruder Florian, der fünf Jahre jünger ist, in Innsbruck, Wien und Berlin aufgewachsen. Haben Sie damals schon Gefallen an Deutschland gefunden oder wie sind Sie hier in die Nähe von Eigeltingen gekommen?
Ich war die letzten 30 Jahre viel in Deutschland. Meine erste Frau war Deutsche. Hierher kam ich durch meine zweite Frau. Seit 2003 leben wir jetzt auf dem Hof.
Sie kümmern sich auf dem Hof hauptsächlich um die 31 Hinterwälder Rinder. Sie haben aber auch eine mehrjährige Ausbildung in Amerika in indianischer Ritualarbeit absolviert. Geben Sie noch Seminare?
Ja, heute ist mein Alltag bäuerlich. Ich mache keine Ausschreibungen für Seminare, aber es gibt Leute, die mich kennen, die mich individuell fragen, ob ich sie begleiten kann. Das mache ich noch. Ich denke, viele Menschen haben ein Element von Fremdfühlen in ihrer Welt, in ihren Familien. Mit 16 war ich drei Monate in Amerika und bin mit meinem Onkel, der damals in Amerika gelebt hat, seiner Frau und seinem zweieinhalbjährigen Sohn, 25 000 Kilometer durch den Westen gefahren. Bis auf eine Nacht waren wir immer im Zelt oder im Freien, haben am offenen Feuer gekocht. Ich habe mich wahnsinnig in das Land verliebt, mit all seiner Mystik.
Mein Gefühl ist sowieso, dass uns das Thema von Heilung, Sterben, Tod aus verschiedensten Richtungen umkreist. Das führt auch dazu, dass ich heute meine Rinder selbst töte. Nicht, weil es mir Spaß macht, sondern weil ich das Gefühl habe, ich darf das eigentlich niemandem anderem überlassen, weil da zu viel Beziehung ist.
Fragen: Simone IseZur Person
Nicolai Van der Bellen (53) ist der Sohn des designierten Bundespräsidenten Österreichs, Alexander Van der Bellen. Er lebt seit 2003 mit seiner Frau auf einem zehn Hektar großen Hof nahe Eigeltingen im Hegau im westlichen Bodenseegebiet. Dort züchtet er Hinterwälder-Rinder, eine vom Aussterben bedrohte Rasse. Auf dem Hof leben noch fünf Pferde und der Riesenschnauzer Belkis. Seit 2014 sitzt Nicolai Van der Bellen für die Freie Wählergemeinschaft im Gemeinderat. Er ist österreichischer Staatsbürger und hat einen fünf Jahre jüngeren Bruder (Florian), der mit seiner Frau und vier Kindern im Oberen Inntal lebt. Nicolai Van der Bellen wird am 26. Januar 2017 bei der Vereidigung seines Vaters zum Bundespräsidenten Österreichs dabei sein.
Alexander Van der Bellen – als Kind einer Familie mit estnisch-russischen Wurzeln geboren – kam in Wien zur Welt, bevor es in ein kleines Tiroler Dorf in den Bergen ging. Nach einer langen Karriere an der Universität entschied sich der zweifache Vater erst spät für eine Laufbahn in der Politik. Die Besetzung der Hainburger Au von linken Aktivisten, die ein Wasserkraftwerk an der Donau verhindern wollten, wurde 1984 zum politischen Wendepunkt. Zu dem Zeitpunkt noch Mitglied der Sozialdemokraten, entschied er sich, zu den Grünen zu wechseln. 1994 zog er ins Parlament ein und wurde bald für elf Jahre Parteichef. Er schaffte es, die Grünen zu ersten Erfolgen zu führen. Zur Wahl trat er aber als Unabhängiger an. Finanziell und personell wurde er aber stark von den Grünen unterstützt. Er bezeichnete sich selbst für Unentschlossene als das „kleinere Übel“. Sein Programm gilt als Kontrapunkt zur FPÖ mit ausländerfeindlichen und EU-kritischen Tönen. (ise/dpa)