Wer in den vergangenen Tagen einmal seinen Fuß oder Finger in das 12 Grad kalte Bodensee-Wasser gestreckt hat, mag es kaum glauben: Dieser See ist ein riesiger Wärmespeicher. Experten rechnen vor, dass er die Hälfte des Energiebedarfs aller 11 Millionen Baden-Württemberger decken könnte. Ähnliche Berechnungen gibt es aus der Schweiz. Dort attestiert man dem See das Potenzial eines Kernkraftwerks. Man geht davon aus, dass er 40 Prozent des kompletten Wärmebedarfs aller Eidgenossen decken könnte.
In der Tiefe liegt die Kraft
Dieses gigantische Potenzial ließe sich sommers wie winters durch Wärmetauscher nutzen. Dazu wird aus 20 bis 40 Metern Tiefe Seewasser abgepumpt. Die Temperaturen in diesem Bereich schwanken unabhängig von der Jahreszeit nur wenig und bewegen sich zwischen vier und zehn Grad. Im Sommer lässt sich das zur Kühlung verwenden, bei tiefen Wintertemperaturen über Wärmepumpen zum Heizen.
So sagt der St. Galler Regierungsrat Marc Mächler, dessen Kanton den Bau entsprechender Anlagen fördert: „Die Technik ist da, wir müssen sie nur nutzen.“ Doch so leicht ist es nicht. Die Technologie schont zwar die Atmosphäre, hat aber einen Pferdefuss. Dem See wird für das Heizen Wärme entzogen – er kühlt sich ab. Umgekehrt im Sommer: Das ohnehin warme Seewasser wird durch den Kälteentzug noch wärmer, was potenziell die Ökologie des Sees belastet.
Klimawandel ist stärker
Ein Effekt, den man im Zuge der Klimaerwärmung im Auge behalten muss. „Letztlich hängt es davon ab, welche Toleranz wir für Temperaturänderungen zulassen“, sagt Alfred Wüest vom Eidgenössischen Wasserforschungsinstitut Eawag dazu. Die Änderungen an der Wasseroberfläche seien aber meist sehr unwesentlich, oft „weit weniger, als mit dem Szenario des Klimawandels zu erwarten ist“, so Wüest.
0,2 Grad zusätzliche Erwärmung
Forscher gehen heute davon aus, dass bei einer Abkühlung in der Grössenordnung von 0,5 Grad Celsius oder einer Erwärmung von 0,2 Grad Celsius keine negativen Folgen für die Ökosysteme zu erwarten sind. Doch selbst wenn man diese Rahmenbedingungen beachtet, bleibt das Energiepotenzial riesig und würde für die Wärmeversorgung von Millionen Menschen in Deutschland und der Schweiz reichen.

Das Landesumweltministerium von Franz Untersteller (Grüne) steht einer solchen Nutzung des Bodensees deswegen auch „grundsätzlich positiv“ gegenüber, wie ein Sprecher auf SÜDKURIER-Anfrage mitteilt.
Bemühungen bisher versandet
Allerdings: Bereits 2014 wurde im Land über entsprechende Pilotprojekte am Bodensee diskutiert – umgesetzt wurden davon bisher keine. Einzig MTU in Friedrichshafen und die Universität Konstanz nutzen in größerem Maßstab Seewasser. Das geschieht allerdings schon seit Jahrzehnten und nur zur Kühlung von Maschinen oder Computerzentren. Auch die Meersburger Therme plante 2017, Seewärme zu nutzen, das Projekt versandete jedoch.

Die Schweiz legt los
In der Schweiz ist da vor allem an anderen Gewässern mehr Zug dahinter. Mit Wasser aus dem Vierwaldstättersee ab Herbst 2020 rund 6800 Haushalte mit Wärme und Kälte versorgt. Zudem baut ein privates Unternehmen an einem Projekt, das die Stadt Zug und Baar-Süd mit umweltfreundlicher Wärme- und Kälteenergie aus dem Zugersee versorgt.
Nach Fertigstellung des Großprojekts im Jahr 2040 spart die Region jährlich 25 000 Tonnen CO2. Und am Bodensee forcieren die Kantone Thurgau und St. Gallen eine energetische Nutzung des Sees. Bereits jetzt gibt es am Schweizer Ufer einige wenige Anlagen, so werden etwa in Romanshorn 165 Wohnungen mit Seewasser geheizt.
Große Anfangsinvestitionen
Das baden-württembergische Umweltministerium klingt da deutlich weniger euphorisch. „Die Wärmegewinnung erfordert zum jetzigen Technikstand sehr große Anfangsinvestitionen“, sagt ein Sprecher. Zwar sei der See tatsächlich ein „gewaltiger Energiespeicher“. Wie viel CO2 man durch die thermische Nutzung des Bodensees einsparen könne, lasse sich derzeit aber nicht sagen. Forciert wird das Thema hierzulande also nicht.
Überlinger Energiekugel
Bei Energieerzeugung im Bodensee kann man auch an die Betonkugel mit drei Metern Durchmesser denken, die im Winter 2016 im See versenkt wurde. Sie hatte jedoch eine andere Funktionsweise und diente eher als Energiespeicher. In den Kugeln befand sich eine Öffnung mit einer Pumpturbine. Wird zusätzlicher Strom im Stromnetz benötigt, kann das Ventil an der Kugel geöffnet werden, sodass Wasser hineinströmt und die Turbine antreibt. Dadurch wird Strom erzeugt. Mit überschüssigem Windstrom wird das Wasser herausgepumpt, damit der Vorgang wiederholt werden kann. Derzeit wird an einem größeren Prototyp gearbeitet.