Herr Seifried, der Schulstart steht vor der Tür. Was sind die größten Herausforderungen für Kinder und Eltern?

Klaus Seifried: Nach den langen Sommerferien müssen sich Kinder und Jugendliche wieder an den Schulalltag gewöhnen. Deshalb sollten Eltern darauf achten, dass ihre Kinder wieder früher ins Bett gehen, ihren Schreibtisch aufräumen und überlegen, was sie am ersten Schultag alles brauchen. Für Erstklässler ist die Umstellung besonders groß, es beginnt ja ein ganz neuer Lebensabschnitt. Das birgt aber nicht nur für sie Herausforderungen, sondern auch für die Eltern. Sie müssen zulassen, dass ihre Kinder selbstständiger werden.

Wie können Eltern diese Selbstständigkeit fördern?

Seifried: Wichtig ist, sein Kind auf die Einschulung vorzubereiten. Schon in den Ferien sollte man gemeinsam den Schulweg üben – am besten lässt man sich von seinem Kind führen, um zu sehen, ob es den Weg schon bewältigen kann oder ob es noch Schwierigkeiten gibt, etwa bei komplizierten Verkehrswegen. Auch sollten die Kinder lernen, ihre Schultasche unter Anleitung selbst zu packen. Grundsätzlich gilt: Selbstständigkeit fördern, wo es geht. Eltern sollten vor der Einschulung aber keine Lerninhalte wie Lesen, Schreiben oder Rechnen vorwegnehmen – das ist die Aufgabe der Schule. Sinnvoller ist es, Kinder motorisch, kreativ oder sportlich zu fördern, zum Beispiel beim Fahrradfahren, Schwimmen oder Musizieren.

Viele Kinder experimentieren am Ende der Kindergartenzeit schon mit Buchstaben und Zahlen. Wo liegt das Problem?

Seifried: Wenn die Kinder das von sich aus machen, etwa weil sie ältere Geschwister haben, ist das völlig in Ordnung. Eltern sollten es aber nicht forcieren. Wenn Kinder schon alles können, langweilen sie sich in der Schule.

Manche Eltern begleiten ihre Kinder sehr eng bei jedem Entwicklungsschritt. Wann wird daraus Überfürsorglichkeit?

Seifried: Engagierte Eltern wollen oft das Beste und tun dann manchmal zu viel. Sie sollten ihre Kinder fragen, ob sie bei den Hausaufgaben oder anderen Dingen Unterstützung brauchen. Wichtig ist, sich Zeit für das Kind zu nehmen und Fragen zu stellen – aber nicht zu viel Kontrolle auszuüben. Die Verantwortung müssen Eltern ein Stück weit an die Schule und die Lehrkräfte abgeben.

Sollte man Hausaufgaben kontrollieren?

Seifried: Die Hausaufgaben anzuschauen ist sicher gut. Man sollte aber nicht permanent neben dem Kind sitzen oder alles kontrollieren. Fehler dürfen gemacht werden – die Lehrerin wird das Kind darauf hinweisen. Wichtiger ist es, dem Kind eine Tagesstruktur zu geben: feste Zeiten für Hausaufgaben, essen und spielen. Klare Strukturen geben Halt.

Was können Eltern tun, wenn ihr Kind Angst vor dem Schulstart hat?

Seifried: Mit dem Kind sprechen und erklären, was es in der Schule erwartet. Die Eltern wissen meist, ob ihr Kind schnell Kontakte knüpft oder eher zurückhaltend ist. Ängstliche Kinder brauchen manchmal mehr Unterstützung, im Extremfall sogar therapeutische Hilfe. Bevor sich Eltern zu große Sorgen machen, sollten sie mit der Lehrerin oder dem Lehrer sprechen.

Zur Schule gehört Leistungsdruck. Wie lernen Kinder, damit umzugehen?

Seifried: Das beginnt schon vor der Schule: Kinder sollten im Haushalt kleine Aufgaben übernehmen und Verantwortung tragen – Spielzeug aufräumen, beim Tischdecken helfen. So lernen sie, dass es Anforderungen im Leben gibt, die auch in der Schule auf sie warten.

Woran merken Eltern, dass ihr Kind mit der Schule überfordert ist?

Seifried: Oft sagen Kinder auf die Frage, wie es in der Schule war, nur „gut“ oder „okay“. Eltern sollten nicht drängen, sondern Geduld haben – irgendwann erzählen Kinder mehr. Probleme zeigen sich oft in psychosomatischen Beschwerden wie Bauch- oder Kopfschmerzen. Dann sollten Eltern sensibel sein und das Gespräch mit der Schule suchen.

Was raten Sie Eltern von Kindern, die niemanden in der neuen Klasse kennen?

Seifried: Darüber sprechen, wie die Mitschüler sind und was in den Pausen passiert. Eltern können auch aktiv unterstützen, indem sie andere Kinder zum Spielen oder zu Geburtstagen einladen. So helfen sie beim Knüpfen neuer Freundschaften.

Mobbing ist ein großes Thema an Schulen. Wie sollten Eltern damit umgehen?

Seifried: Mit dem Begriff Mobbing sollte man vorsichtig sein, er ist klar definiert: Wenn mehrere Kinder systematisch und über längere Zeit einen Mitschüler drangsalieren. Eltern und Lehrkräfte sollten sensibel sein, weil viel im Verborgenen passiert. Wenn ein Kind etwa sagt: „Ich will nicht mehr in die Schule, meine Mitschüler sind alle blöd“, sind das Warnsignale. Eltern sollten dann das Gespräch mit dem Kind und der Schule suchen. Zu übervorsichtig sollten sie aber auch nicht sein. Kinder müssen lernen, sich durchzusetzen.

Wie hat sich die psychische Belastung der Kinder seit Corona entwickelt?

Seifried: Studien zeigen, dass Angstsymptome und depressive Verstimmungen nach Corona wieder rückläufig sind, aber immer noch höher liegen als vor der Pandemie. Das liegt auch an den aktuellen Weltgeschehnissen und den vielen beunruhigenden Nachrichten, die Kinder mitbekommen. Eltern sollten Kindern Sicherheit geben und sie nicht mit Themen überfrachten, die sie noch nicht einordnen können.