Es war einmal an einem verregneten Sommertag. Fünf Freunde, die gemeinsam aus England gekommen sind, wollten sich eigentlich am Genfer See näher kennenlernen. Und dann das: Der Sommer fällt einfach aus. Wir schreiben das Jahr 1816, welches in die Geschichte eingehen wird, als das Jahr ohne Sommer. Denn ein Jahr zuvor war in Indonesien der Vulkan Tambora ausgebrochen. Er spuckte tonnenweise Asche und Staub in die Atmosphäre, sodass das Sonnenlicht verdunkelt wurde.


Aber das wissen die fünf Freunde aus England nicht. Sie ärgern sich nur über die Kälte, Nässe und Stürme. Unter ihnen ist die 18-jährige Mary Godwin. Sie ist intelligent, hübsch, streitlustig und auf dem besten Weg weltberühmt zu werden. Denn sie wird in diesen Tagen ein Stück Weltliteratur verfassen. Mary Godwin, besser bekannt als Mary Shelley, ist die Schöpferin des Schauerromans „Frankenstein oder Der moderne Prometheus“ (Erstausgabe 1818).

Ohne es zu ahnen, verfasst die 18-Jährige einen Klassiker, der 200 Jahre später immer das Gruseln lehrt. Die Geschichte über den Monster-Macher und seine Kreatur, die im Verlauf der Geschichte zum Mörder wird, gibt es nur, weil sich die Freunde aus Langweile einen Schreibwettbewerb liefern.

Aber zurück zum Anfang: Gemeinsam verbringen die damalige Mary Godwin, ihr Liebhaber und späterer Ehemann Percy Shelley, der Dichter Lord Byron, sein Leibarzt John Polidori und Marys Halbschwester Claire Clairmont den Sommer am Genfer See. Die Schwester ist es, die Mary und Percy Shelley, der zu diesem Zeitpunkt mit einer anderen Frau verheiratet ist, die Schweiz als Reiseziel vorschlägt – mit einem Hintergedanken. Sie hofft dort wieder Lord Byron zu treffen. Mit ihm hatte sie in London eine kurze Affäre. Das Ergebnis dieser Liaison: Sie ist schwanger. Das Techtelmechtel mit Clair Clairmont ist nicht das einzige, das Lord Byron hat. Er ist eine Art Casanova. Neben seiner sich langsam auflösenden Ehe, ist er gleichzeitig an vielen Männern interessiert. Auch mit Percy Shelley versteht er sich auf Anhieb gut, obwohl die beiden grundverschieden sind. Lord Byron ein Zyniker und Dandy, Shelley ein Idealist der Romantik. Doch auch er hält nicht viel von Monogamie. Shelley ist ein Verfechter der freien Liebe und flirtet daher auch mit Claire Clairmont.

„Es gab ein großes emotionales und erotisches Hin und Her. Die Villa war ein ganz schönes Treibhaus“, erklärt die amerikanische Literatur-Professorin Charlotte Gordon vom Endicott College im US-Bundesstaat Massachusetts in einem Interview. Sie kennt sich mit dem Leben von Mary Shelley bestens aus. Die Amerikanerin hat eine Biographie über die Frankenstein-Autorin geschrieben. Gordon kann sich die Situation in der Villa von Lord Byron gut vorstellen: „Sie waren zusammen eingepfercht. Das ist bei romantischen Dichtern nie eine gute Idee.“

In diesem Potpourri aus Affären, intellektuellen Geplauder und meisen Wetter entstand nun der erste Science-Fiction-Roman, wie die Geschichte von Viktor Frankenstein auch oft bezeichnet wird. Um sich die Zeit bei dem Regenwetter zu vertreiben, erzählen sich die Schöngeister Mary, Shelley, Lord Byron, Polidori und Clairmont gegenseitig deutsche Geister- und Gespenster-Geschichten. Sie diskutierten auch über den Darwinismus und die im 19. Jahrhundert erfundene Galvanisation, bei der Gleichstrom durch tote und lebende Objekte geleitet wurde. Irgendwann gehen ihnen die Spukgeschichten und naturwissenschaftlichen Themen aus. Sie beschließen, jeder solle selbst eine Gruselgeschichte erfinden.

Polidori schreibt über Nacht „Der Vampyr“. Die Geschichte erscheint 1819 – 80 Jahre bevor Bram Stoker Dracula erfindet. Während die Männer schaurige Kurzgeschichten zu Papier bringen, denkt sich Mary einen ganzen Roman aus. Angeblich ist ihr die Idee in einem Traum gekommen. „Ich sah, mit geschlossenen Augen, aber doch als klare geistige Vision, einen bleichen Naturgelehrten, kniend vor dem ‚Ding‘, das er zusammenkonstruiert hatte“, schreibt Shelley selber im Vorwort ihres Buches.

Aber wie ist die 18-Jährige auf die Idee gekommen, ein Monster aus Leichenteilen – wenn auch nur literarisch – zum Leben zu erwecken? Tatsächlich soll Mary angeblich 1803 dabei gewesen sein, als der Physiker Anthony Carlisle ihren Vater besuchte. Dabei erzählte Carlisle von den Galvanisierungs-Experimenten, die an den Körpern von gestorbenen zum Tode Verurteilten im Gefängnis vorgenommen worden waren. Dabei zuckten die Gliedmaßen des Toten, das man meinen konnte, der Tote lebe wieder. Auch Shelley hat seiner Geliebten und späteren Frau von ähnlichen Versuchen erzählt. Er war als Jugendlicher oft zu Gast beim schottischen Mediziner James Lind gewesen. Dieser war bekannt für seine Forschungen mit Elektrizität und toten Fröschen.

Vielleicht hat die junge Autorin auch von einigen Geschichten von der Burg Frankenstein in Hessen gehört. Dort wurde 1673 der Alchemist Konrad Dippel geboren. Für seine Experimente soll er angeblich Leichen ausgegraben haben – genau wie Viktor Frankenstein. War er das Vorbild für die literarische Figur? Eindeutig beweisen oder widerlegt, sei das nicht, so Literaturprofessorin Gordon. Dafür hat Mary Shelley bewiesen: Auch schlechtes Wetter ist für etwas gut. Es kann die literarische Weltgeschichte verändern.

Mary Shelley

Die Autorin von "Frankenstein Oder der moderne Prometheus" Mary Shelley, geborene Godwin, erblickte 1797 in London das Licht der Welt. Sie hat mehrere Romane, Kurzgeschichten, Essays, Gedichte und Reiseerzählungen verfasst. Im Jahre 1818 heiratete sie den Schriftsteller Percy Shelley. Dieser starb aber 1822. Mary Shelley selbst starb 1851. (sk)