Ilkay Gündogan ist wahrscheinlich kein Muster-Beispiel für einen Kapitän. Der 33-Jährige ist nicht der Spielführer, der lautstark vorangeht, der seine Mitspieler anbrüllt und versucht, sie mit seinen Worten aufzuwecken. Gündogan ist zudem keine Zweikampfmaschine, die durch Grätschen oder harte Tacklings glänzt, was viele Trainer von ihrem Mann mit der Binde sehen wollen, sondern ein feiner Fußballer.
Und letztlich ist der 1,80 Meter große Mittelfeldmann bei der deutschen Nationalmannschaft nicht einmal unangefochten. Viele Fans und Experten sehen ihn gar nicht in ihrer Wunsch-Startelf für die Heim-Europameisterschaft, die für das deutsche Team am Freitag mit dem Auftaktspiel gegen Schottland (21 Uhr/ARD) beginnt. Rekord-Nationalspieler Lothar Matthäus sagte zum Beispiel vor kurzem, wie er aufstellen würde: Und zwar ohne den Kapitän.
Diskussionen selbst beendet
Nicht selten wurde Bundestrainer Julian Nagelsmann sogar schon dafür kritisiert, dass er sich bei der Kapitänsfrage so früh festgelegt hat auf Gündogan. Seit vergangenem September führt er die DFB-Auswahl aufs Feld, immer wieder bekräftigte der Bundestrainer, dass sich an seiner Entscheidung nichts ändern werde. Hat sich Nagelsmann verzockt? Wären Joshua Kimmich oder sogar Rückkehrer Toni Kroos sinnvoller gewesen?
Ein Kapitän, der nicht spielt, könnte schließlich zu einem medialen Thema werden und damit für unnötige Unruhe in der Mannschaft sorgen. Doch ausgerechnet Gündogan selbst beendet solche Diskussionen – mit reflektierten Aussagen. „Ich glaube, dass der moderne Fußball sich verändert hat. Er ist nicht mehr so strukturiert, dass man sagt, der Kapitän muss immer spielen. Dafür ist die Leistungsdichte einfach zu groß“, sagte der Kicker des FC Barcelona vor wenigen Tagen.
Sechser, Zehner oder Bank?
Mit anderen Worten: Ilkay Gündogan betrachtet das Kapitänsamt nicht als Garantie dafür, in der Startelf gesetzt zu sein. Und er hätte wohl auch kein Problem damit, wenn er mal nicht von Beginn an ran dürfte, würde keine negative Stimmung machen. „Wir haben extrem viele tolle Fußballer. Egal, ob Kapitän oder nicht, man muss sich immer aufs Neue beweisen“, erklärte der 77-malige Nationalspieler, dessen Rolle auf dem Platz sich vor allem durch die Rückkehr von Kroos verändert hat.
In seinen Vereinen Borussia Dortmund, Manchester City oder aktuell beim FC Barcelona spielte er meist auf der Sechs, teilweise auf der Acht, also etwas weiter vorne. In der Nationalmannschaft setzt Nagelsmann neben Kroos aber auf einen Abräumer wie Robert Andrich oder Pascal Groß. Gündogan wanderte daher schon bei den Länderspielerfolgen im März gegen Frankreich und die Niederlande auf die Zehn – direkt hinter den Stürmer. Und gerade mit dieser Position scheint der Stratege noch etwas zu fremdeln.
Zumal die Konkurrenz groß ist: Jamal Musiala und Florian Wirtz gelten als das Zauber-Duo, die beide eigentlich lieber im Zentrum als auf dem Flügel agieren wollen. Und die Tiefenläufe sowie das Tempo von Leroy Sané sind für jede Mannschaft Gold wert. Das könnte also auch das Offensiv-Trio sein: Sané auf dem rechten Flügel – Musiala und Wirtz auf der linken Seite beziehungsweise auf der Zehner-Position.
Und sollte Niclas Füllkrug dank seiner Präsenz im Strafraum gegen tiefstehende Gegner zudem mal als Stürmer gebraucht werden, gibt es immer noch die Option, dass wie zuletzt beim 2:1-Sieg gegen Griechenland in letzten 20 Spielminuten Kai Havertz als hängende Spitze agiert. Was spricht da also überhaupt für Gündogan? Für den Mann, der von seinen ehemaligen Vereinstrainern Jürgen Klopp, Pep Guardiola oder Xavi geadelt wird, den so gut wie alle seine Mitspieler enorm respektieren.
Im Verein als Kapitän
Auch bei seinen Clubs trug Gündogan ja über Jahre hinweg die Binde. Und er glänzte. Wobei das in vielen Fällen nicht ganz so stimmt. Denn Gündogan lässt glänzen – seine Mitspieler. So beschreibt er selbst seine Rolle, auch in der Nationalmannschaft: „Musiala und Wirtz sollen für den Zauber sorgen“, sagt er. Den beiden traut er auch zu, zum Superstar der EM zu werden.
Sich selbst nicht? Obwohl er ja in der Vergangenheit auch schon häufig im Mittelpunkt stand, weil er zum Matchwinner avancierte. Nicht zuletzt, als er im Mai 2022 mit einem Doppelpack am letzten Spieltag gegen Aston Villa den Meistertitel für Manchester City sicherte. Gündogan ist eben der leise Kapitän, der seine Mannschaft etwas anders führt. Das wird er auch am Freitag beim Eröffnungsspiel wieder zeigen – egal ob von Beginn an oder von der Bank.