Das, was man den Anfang des deutschen Formel-1-Wunders nennt, hat am 25. August 1991 seinen Ursprung genommen – mit einer Notlüge. Willi Weber, Manager eines Rennfahrers namens Michael Schumacher, hatte behauptet, sein Schützling kenne die Rennstrecke von Spa-Francorchamps praktisch auswendig. Dabei wusste der 22-Jährige nicht mal so genau, wie er von seinem Heimatort Kerpen in der Eifel zum Großen Preis von Belgien kommen sollte. Aber Streckenkenntnis hatte Teamchef Eddie Jordan zumindest von dem Ersatzpiloten verlangt, neben 150 000 Pfund Startgeld (damals 450 000 Mark). Jordans Stammfahrer Bertrand Gachot saß nach einem Reizgasangriff auf einen Taxifahrer in London im Gefängnis. Schumacher lauerte als Mitglied des Mercedes-Juniorteams auf eine Grand-Prix-Chance. Die Notlüge war ein Glück. Für ihn, für Deutschland, für die Königsklasse des Motorsports überhaupt.
„Für die Rennsportwelt hat damals eine neue Zeitrechnung begonnen“, erinnert sich der ehemalige Mercedes-Sportchef Norbert Haug, „auf Anhieb ein siebter Startplatz, das war ein sensationelles Ergebnis. Vor Michael Schumacher war Deutschland ja nicht unbedingt eine Formel-1-Nation.“ Doch auf Schumachers sieben Weltmeistertitel folgten noch vier von Sebastian Vettel und vier Konstrukteurstitel für Mercedes. „Er wurde in der Folge zum Leitstern gleich mehrerer Motorsportgenerationen, und all das hat seinen Ursprung in dieser Premiere“, sagt Haug.
Einer Premiere, die gründlich schiefzugehen drohte. Schumacher hatte kein Lampenfieber, sondern richtig erhöhte Temperatur, als er in einer Jugendherberge in den Ardennen ankam. Aber er ahnte, dass sich ihm eine einmalige Chance bot: „Als ich ankam, fühlte ich mich seltsam eingeschränkt. Wie wenn du diesen Tunnelblick hast, wo du nichts mehr siehst und dich nur noch auf die nächstliegenden Dinge konzentrierst.“ Mit dem Mountainbike radelt er die Strecke ab, von der man sagt, dass sie Buben von Männern trenne. Die Ideallinie stellt er sich vor. Im Medienzentrum fragen die britischen Reporter, ob er nicht vielleicht mit dem deutschen Fußball-Nationaltorhüter Toni Schumacher verwandt sei, der wäre doch auch aus der Gegend.
Schumacher ist schüchtern, jedenfalls außerhalb des Cockpits. Er schafft es auf Anhieb unter die besten zehn Fahrer, was in der Formel 1 – zumal mit einem Mittelklasseauto – so selten ist wie Verschiebungen in der Hackordnung des Eiskunstlaufens. Und er findet, dass Tempo und Bremsen eines Grand-Prix-Autos, von denen man ihm vorgeschwärmt hatte, so toll nun auch nicht wieder wären. Die Qualifikation beendet er als Achter, daraus wird schließlich noch ein siebter Startplatz. Auch wenn sich sonntags spontan ein paar Tausend Fans auf den Weg über die Grenze machen – die Autobahn-Nation Deutschland begreift noch nicht richtig, was für eine Karriere da gerade ins Laufen gerät.
Ein Deutscher zwischen Champions
Alain Prost droht er mit der Faust, nachdem ihm dieser eine schnelle Runde kaputt gemacht hat, Ayrton Senna erkundigt sich hinter den Kulissen nach diesem „Shoemaker“. Und am Start zum Rennen überholt Michael Schumacher gleich zwei Konkurrenten. Als es richtig losgehen kann, ist der Spaß auch schon wieder vorbei, die Kupplung des chronisch unterfinanzierten Jordan-Ford löst sich nach 700 Metern in Rauch auf. Formel-1-Zampano Bernie Ecclestone, der dringend einen Deutschen zur Belebung seines Geschäftes braucht, und der Benetton-Teamchef Flavio Briatore, der einen Siegfahrer sucht, haben da schon genug gesehen. Sie bereiten hinter den Kulissen schon die Beförderung des 22-Jährigen vor, der schon beim nächsten Lauf in einem Benetton sitzen und als Fünfter seine ersten WM-Punkte einfahren wird.
Die Berg- und Talbahn von Spa-Francorchamps mit ihrem eigenwilligen Charakter ist nicht ganz zufällig immer die Lieblingsstrecke von Michael Schumacher geblieben. Mit Romantik hat das aber wenig zu tun. „Das, was bei ihm am meisten eine Rolle spielte, der Spaß am Rennfahren, hat sich dort gebündelt“, sagt Managerin Sabine Kehm. Spa, immer wieder Spa. Ein Jahr nach dem Debüt gewinnt er dort sein erstes Formel-1-Rennen, 2004 sichert er sich dort vorzeitig seinen siebten Weltmeistertitel, 2012 erlebt er dort – inzwischen wieder als Mercedes-Pilot – seinen 300. Start. Aus dem Jugendzimmer war tatsächlich sein Wohnzimmer geworden. Für Jean Todt, Freund der Familie Schumacher und Präsident des Automobilweltverbandes FIA, wenig überraschend: „Spa ist eine Rennstrecke, auf der das Talent wirklich einen Unterschied macht. Daher ist es logisch, dass Michael dort besonders hervoragte.“
Todt hat seinem Freund, der sich Ende 2013 bei einem Skiunfall ein schweres Schädel-Hirn-Trauma zugezogen hatte, stets eine bestimmte Angst vor dem Versagen als zusätzlichen Antrieb attestiert. Bange machen galt für Schumacher indessen nicht. Vor einem Vierteljahrhundert zeigte sich zum ersten Mal auf großer Bühne die Fähigkeit, sich blitzschnell neuen Gegebenheiten anpassen zu können.
Auf seinen starken Einstand angesprochen, sagt er damals: „Ich war selbst davon überrascht, wie entspannt ich vor dem Start gewesen bin. Vielleicht, weil alles gepasst hat. Richtiger Ort, richtige Zeit, richtiges Auto, richtige Leute.“ Er habe sich einfach in sein Auto gesetzt und sei am Limit gefahren. „Man darf sich in der Formel 1 nicht zu lange mit so etwas beschäftigen, die Zeit ist ist einfach nicht da.“ Dieser Satz des 22-Jährigen wiederum hat mit einer Notlüge nichts zu tun.
Schumacher und Spa-Francorchamps – eine Geschichte für sich
Bei seinem ersten Grand Prix in Belgien vor 25 Jahren ahnte niemand von der künftigen Bedeutung der Strecke für Michael Schumacher. Heute ist Spa-Francorchamps untrennbar mit ihm verbunden.
1991: Formel-1-Renndebüt am 25. August. Das Aus folgt nach nur 700 Metern wegen eines Kupplungsschadens am Jordan.
1992: Erster Formel-1-Sieg.
1994: Schumachers zweiter Spa-Sieg wird aberkannt: Die Bodenplatte am Benetton verstößt gegen die Regeln.
1995: Schumacher gewinnt erneut. Im Regen fährt er von Startplatz 16 auf Rang eins.
1996: Schumacher siegt wieder.
1997: Der Kerpener macht den Spa-Hattrick perfekt.
1998: Legendärer Wutanfall. Schumacher kracht in Führung liegend auf nasser Fahrbahn beim Überrunden mit seinem Ferrari ins Heck des McLaren-Mercedes von David Coulthard. Auf drei Rädern geht es zurück in die Box. Mehrere Ferrari-Mitarbeiter müssen den wutentbrannten Schumacher zurückhalten. Jahre später gesteht Coulthard, er habe nicht richtig Platz gemacht.
2001: Schumacher gelingt der 52. Grand-Prix-Sieg, Einstellung des Rekords von Alain Prost.
2004: Schumacher macht in Spa seinen siebten WM-Titel perfekt.
2012: Schumachers 300. Grand Prix in der Formel 1. (dpa)