Sebastian Mayr

Illerkirchberg ist nicht zum ersten Mal Schauplatz eines schweren Verbrechens, das die Gemeinde erschüttert. Etwas mehr als drei Jahre vor der Messerattacke, bei der eine Schülerin getötet und eine weitere verletzt wurde, war eine Jugendliche in einer Nacht und am Morgen danach neunmal vergewaltigt worden. Das Landgericht Ulm verurteilte deswegen vier Geflüchtete. Einer lebte nach seiner Freilassung in Illerkirchberg, obwohl die Polizei Rückfallgefahr sieht. Wie konnte es dazu kommen?

Nach Medienberichten hat der Mann den Ort verlassen. Die Gemeinde äußerte sich dazu auf Anfrage unserer Redaktion nicht. Am 31. Oktober 2019 fuhr eine Jugendliche nach einer Halloween-Feier in Ulm mit einer Gruppe Jugendlicher und junger Männer mit dem Bus nach Illerkirchberg. Die Begleiter der 14-Jährigen stammten aus Afghanistan und dem Irak, die Jugendliche kannte einen von ihnen. Die Gruppe steuerte eine Sammelunterkunft für Asylsuchende an. Was dort geschah, konnte das Landgericht Ulm eineinhalb Jahre später nicht vollends aufdröseln. Klar ist: Die Jugendliche wurde in der Nacht und am nächsten Morgen neunmal vergewaltigt. Die Angeklagten wurden am 15. März 2021 zu 28 beziehungsweise 26 Monaten Haft verurteilt, in zwei Fällen handelte es sich um Jugendstrafen. Die Urteile fielen milde aus, weil sich nicht alles klären ließ und weil alle Seiten einen Deal schlossen: Dem Opfer sollten die extrem belastenden Vernehmungen erspart werden. Das Gericht legte vorab eine Höchststrafe fest, im Anschluss gestanden die Angeklagten Teile der Vorwürfe.

Jugendliche in Illerkirchberg vergewaltigt: Täter lebte wieder im Ort

Einer der Täter lebte nach seiner Freilassung wieder in Illerkirchberg, obwohl er nach Afghanistan abgeschoben werden sollte. "Ich war entsetzt, dass unsere Gemeinde einen der verurteilten Vergewaltiger von 2019 wiederaufnehmen sollte", erinnert sich Bürgermeister Markus Häußler (parteilos). "Deshalb habe ich alle Hebel in Bewegung gesetzt, um das zu verhindern. Meine Mühe war vergeblich: Wir waren gezwungen, den verurteilten Straftäter erneut unterzubringen. Die eigentliche Lösung wäre die Abschiebung. Die zweitbeste, ihn woanders unterzubringen." Auch das Landratsamt Alb-Donau-Kreis teilt mit: "Einzig zielführende Lösung im Fall N. ist die Abschiebung."

Doch wer hat entschieden, dass der Mann wieder in Illerkirchberg leben soll? Die Gemeinde macht keine Angaben, das Landratsamt verweist auf das Regierungspräsidium Tübingen– und dieses wieder auf das Landratsamt. Eine Sprecherin nennt als Begründung eine Entscheidung aus dem September 2018. Damals hatte das Landratsamt Alb-Donau-Kreis den Mann der Gemeinde Illerkirchberg zur Anschlussunterbringung zugeteilt. "Diese Zuteilung hatte auch nach der Haftentlassung weiterhin rechtlichen Bestand", teilt die Sprecherin mit. Das Regierungspräsidium Tübingen hatte vor der Haftentlassung festgelegt, dass der Mann im Alb-Donau-Kreis bleiben muss. Doch warum wieder Illerkirchberg? "Eine Verlegung von Herrn N. innerhalb des Landkreises hätte einerseits einer Gemeinde bedurft, die den Täter aufnimmt, gleichzeitig aber das grundsätzliche Problem nicht beseitigt, da sich der verurteilte Straftäter dann weiterhin in der Region aufgehalten hätte."

Behörden ordneten Rückkehr des Vergewaltigers nach Illerkirchberg an

Der Messerangriff vom Montag, 5. Dezember, bringt diesen Entwicklungen neue Aufmerksamkeit. Auf Demonstrationen und Mahnwachen für die getötete Schülerin Ece S. wurden Wut und Unverständnis über die Rückkehr des Vergewaltigers laut. Die 14-Jährige und eine Freundin waren auf dem Weg zur Schule angegriffen worden.Ece S. kam ums Leben, ihre 13 Jahre alte Freundin wurde schwer verletzt und im Krankenhaus behandelt. Nach Angaben der StaatsanwaltschaftUlm ist sie inzwischen zu ihrer Familie zurückgekehrt und soll vernommen werden. Der mutmaßliche Täter, ein 27 Jahre alter Mann aus Eritrea, befindet sich in Untersuchungshaft. Er schweigt zu den Vorwürfen. In einem Interview sagte Bürgermeister Häußler, das öffentliche Leben in Illerkirchberg stehe noch immer still, die Gemeinde stehe unter Schock.

Der verurteilte Vergewaltiger, ein Afghane, wurde am 5. Januar 2022 aus der Strafhaft entlassen und direkt in die Abschiebungshaft überführt – schon wenige Wochen nach dem Urteil war der Mann vom Regierungspräsidium Tübingen ausgewiesen worden. Doch Ende März hob das AmtsgerichtKarlsruhe die Abschiebungshaft auf. Die Bundesregierung hat Abschiebungen nach Afghanistan ausgesetzt, seit die Taliban dort wieder die Macht übernommen haben. Die Entscheidung hat der damalige Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) im August 2021 getroffen. Abschiebungen dürften nicht zur Gefahr für die Rückzuführenden, die Begleitkräfte und die Flugzeugbesatzung werden. Das Ministerium der Justiz und für Migration Baden-Württemberg hält das für falsch. Es fordert den Bund seit rund einem Jahr auf, Abschiebungen nach Afghanistan von Gefährdern und Personen, die schwere Straftaten begangen haben, zügig wiederaufzunehmen.

Forderung: Abschiebungen nach Afghanistan sollen wieder beginnen

In zwei Schreiben an das Bundesinnenministerium, die unserer Redaktion vorliegen, weisen die baden-württembergische Justizministerin Marion Gentges und Staatssekretär Siegfried Lorek (beide CDU) auf den Fall des verurteilten Vergewaltigers hin. Der Mann habe keine Zukunftsperspektive, aus polizeilicher Sicht bestehe Rückfallgefahr für weitere Sexualstraftaten. Als zweites Beispiel nennen Gentges und Lorek den Fall eines verurteilten Islamisten, der als gewaltbereit gilt. "Mit der Akzeptanz der Bevölkerung für die Aufnahme weiterer schutzbedürftiger Personen aus Afghanistan kann nur gerechnet werden, wenn die Ausreiseverpflichtung von Ausländern, die schwere Straftaten begehen oder eine Gefahr für die innere Sicherheit darstellen, konsequent durchgesetzt wird", heißt es im Schreiben weiter.

Die Gemeinde Illerkirchbergäußerte sich nicht zu der Frage, ob der verurteilte Vergewaltiger weiterhin in dem Ort lebt. Die Bild berichtet, der Mann sei kurz nach dem tödlichen Messerangriff weggezogen.