In der vorherrschenden Deutung ist der russische Krieg gegen die Ukraine ein Versuch, die Sowjetunion wiederherzustellen. Freilich jenseits der historischen Sowjetunion und ihres politischen Systems, deren Zerfall die sowjetischen Geheimdienste – samt dem noch unscheinbaren Putin in Dresden und St. Petersburg – ja gerade entfesselt und von aller politischen Kontrolle durch die absterbenden bolschewistischen Seilschaften befreit hat. Aber schon im Rückgriff auf das alte Großreich, wie es die Sowjetunion in neuen Formen weitergeführt hat.
Putin stellt sich ausdrücklich selbst in diese epochenübergreifende Kontinuität – von Peter dem Großen bis zu Stalin. Und man nimmt es ihm ab. Die Ukraine war, seitdem sie unter russischer Herrschaft stand, immer ein bedeutender Zugewinn für das Reich, man denke nur an Odessa als Exporthafen für das ukrainische Getreide. In der Sowjetunion wird die Ukraine dann die nach Gewicht und Bedeutung zweite Teilrepublik hinter der russischen sein: das eigentliche Zentrum der sowjetischen Industrialisierung und sozioökonomischen Hochmoderne. Ausgerechnet diese bis heute tragenden sowjetischen Errungenschaften lässt Putin unter dem Druck der sich abzeichnenden Niederlage zusammenschießen.
Aber es gibt auch eine andere, leisere Sicht auf den monströsen Vernichtungskrieg. Danach dienen die Kriege Putins vor allem seinem Machterhalt in Russland selbst. Angefangen vom zweiten Tschetschenienkrieg, der ihn überhaupt erst an die Macht katapultiert hat. Wäre es ohne die Terroranschläge gegen Zivilisten in russischen Großstädten – vermeintlich von radikalen tschetschenischen Islamisten, faktisch eher von russischen Geheimdienstlern verübt – überhaupt zu diesem verheerenden Krieg gekommen?
Auch die verschleiert militärische Annexion der Krim, die Putin einen enormen Schub nationalistischer Popularität verschaffte, versteht man kaum, ohne die geschwächte Gesamtlage des Putin-Regimes einzubeziehen. 2011/2012 sah es sich erstmals mit breiten Protesten der jüngeren Generationen und gebildeten Mittelschichten konfrontiert. Die Abfolge des russischen Krisenmanagements gegenüber dem Umbruch in der Ukraine legt es nahe, dass dem Kreml ein kalter Regimewechsel in Kiew mittels einer hörigen politischen Figur wie Wiktor Janukowitsch lieber gewesen wäre als ein wie immer verleugneter Krieg wie der im Donbass – mit seinen Zehntausenden Toten und Millionen Binnenflüchtlingen.
Putin hat sich in seinen gut zwei Jahrzehnten eine allein auf seine Person zugeschnittene Machtstellung aufgebaut und gesichert – ein Machtaufbau wider alles, was man Regierungskunst nennen könnte. Um den Preis der Selbstabschottung und des wuchernden Realitätsverlustes, wie der laufende Krieg gegen die Ukraine von Beginn an gezeigt hat. Wenn man dem französischen Publizisten Francoise Bonnet folgt, so ist das Motiv auch hinter diesem Krieg der Machterhalt eines kriminellen Regimes, das seine ursprüngliche Anerkennung in der russischen Gesellschaft weitgehend verspielt hat. Der Krieg erlaubt die Diktatur, die wiederum mit ihrer Gewalt den Verlust an Macht ausgleichen muss.
Der Verfasser war Privatdozent für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Konstanz.