Nach wie vor haben wir kaum Einblick in das aktuelle Szenarium des Machtkampfes in Russland selbst. Aber inzwischen wirkt der Diktator doch wie ein Machthaber in Bedrängnis. Angefochten, angezählt in seinem eigenen Land, im realen politischen Kräftefeld Russlands. Russland hat bereits aufgehört, so etwas eine riesige menschliche Verfügungsmasse für das Machtzentrum zu sein – ein mittels unbegrenzter Medienkontrolle und uferloser Repression jedes Keims von Opposition und Protest hergestellter, stillgestellter Block von Untertanen. Die Unbeugsamen im Land, von denen es bewundernswert viele gibt, sprechen von „Sklaven“. Es ist auch für uns, als durchschnittliche, aber am Schicksal der Ukraine teilnehmende deutsche Bürger, an der Zeit, unsere Aufmerksamkeit vom Kriegsverlauf in der Ukraine auf Moskau, auf die russische Innenpolitik zu erweitern.

Angesichts des anhaltenden Scheiterns der russischen Invasionstruppen – mit Terrorangriffen gegen die fremde Zivilbevölkerung nie wettzumachen – darf man fragen: Warum kommt aus den russischen Machteliten kein massiver, offener, für die ganze Welt erkennbarer Widerstand gegen einen Krieg, der nicht zu gewinnen ist? Der überhaupt keinen Sinn hat? Kann diese politische Elite nicht denken, nicht urteilen, um hier die Kernbegriffe von Hannah Arendt aufzugreifen? Wieso ist sie nicht in der Lage, die offenbare Selbstisolierung des russischen Staates zum Pariastaat zu erfassen, als real anzuerkennen? Wieso versucht sie nicht, die fundamentale wirtschaftliche, zivilisatorische, kulturelle Herabsetzung und Schädigung des Landes durch das Putin-Regime endlich abzubrechen und einen gewissermaßen rettenden Strategiewechsel einzuleiten? Was für eine Elite ist das?

Keine nationalistische jedenfalls. Sonst würde sie ein Interesse an der russischen Nation zeigen – und ihre Soldaten nicht als Kanonenfutter betrachten. Aber auch keine imperialistische. Sonst würde sie das russische Imperium in seinen längst laufenden Zerfall nicht aus freien Stücken noch tiefer hineintreiben. Zeigt sich hier nicht eher das Gesicht einer Mafia, die überhaupt nichts vertritt, außer sich selbst, die eigene Gier und Verfügungsgewalt? Die Fratze eines Netzwerkes von Banden – kriminell, parasitenhaft, unersättlich, die den russischen Staat, die russische Gesellschaft, das Volk, das Land, seine Reichtümer, seine Zukunft in ihre Gewalt gebracht hat?

Vielleicht wird man einwenden, diese Sicht unterschlage die totale Macht Putins. Dann wäre es eine Elite, die vielleicht noch den Namen verdient, aber bis zur Handlungsunfähigkeit eingeschüchtert ist. Die von der Spitze in die politische Nichtigkeit hineinterrorisiert worden ist. Entspräche diese Analyse denn eher der Geschichte der Herrschaft Putins? Auch auf das historische Bild der Herrschaft Hitlers über Deutschland wird man sich dabei kaum berufen können. Auch dem deutschen Diktator haben bekanntlich alle, ausnahmslos alle Eliten zugearbeitet (Militär, Verwaltung, Wirtschaft, Justiz, Medizin, Universitäten). Auf eigene Initiative; beflissen, erfinderisch: ingeniös. Hitler musste die fortschreitende Radikalisierung von Gewalt und Terror jeweils nur abnicken. Nirgendwo hier der viel beschworene Untertan.

Der Verfasser war Privatdozent für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Konstanz.

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