Die jüngsten Erfolge der ukrainischen Armee im Osten und Süden ihres von Russland überfallenen Landes lassen auch unsere Hoffnung aufflammen. Was der schwere Rückschlag der Besatzer für das Putin-Regime bedeutet, bleibt bis auf weiteres aber offen. Auch vor den offenbar strategisch gravierenden Rückeroberungen der ukrainischen Soldaten mag es schon so etwas wie einen schleichenden Machtverlust des Diktators gegeben haben. Und wo war dann seine Reaktion auf die ukrainischen Angriffe gegen russische Militäranlagen und Kampfflugzeuge ausgerechnet auf der Krim? Nur Schweigen oder albern anmutende Desinformationsversuche. Und warum gibt es keine Generalmobilmachung? Dem Kreml gehen doch offenbar die Soldaten aus. Und jene, die er noch aufzubieten hat, haben erkennbar nicht die beste Kampfmoral aufzuweisen.

Könnte dieser Widerwille, Missmut – oder vielleicht ist es auch nur eine Art Gebrochenheit – nicht der Grund für den Verzicht auf eine umfassende Mobilisierung junger Männer sein? Es könnte sie ja für nur den Krieg geben, der in Wirklichkeit stattfindet, aber dann zwingend auch in Russland so genannt werden müsste. Man fragt sich, wie unter inzwischen so total repressiven Bedingungen denn irgendeine professionelle Demoskopie funktionieren soll. Aber sollte tatsächlich die große Mehrheit der Russen – 70 bis 80 Prozent, wie man liest – nach wie vor hinter Putin und seinem Krieg stehen, so darf man doch fragen, was für eine Art von Unterstützung das ist. Eine glühende, fanatische Begeisterung für die Vernichtung von vermeintlichen „Nazis“ anderswo? Ein leidenschaftliches Engagement für die vermeintlich bedrohten „Russen“ im Donbass? Und das alles im Kontext eines massenhaft angespannten, harten Alltagslebens, nicht selten am Rande von Armut? Handelt es sich da nicht eher um ein Festhalten am „starken Mann“ samt seinen Herrschaftsformen? Oder sollte diese schon ältere – mittlerweile unübersehbar doch bereits erheblich erodierte – Loyalität heute auf einmal auch die volle Identifizierung mit dem militärischen Überfall auf ein anderes Land umfassen? Das sind doch grundverschiedene Motive, Haltungen, Mentalitäten.

Ist es nicht überhaupt ein Rätsel, wie aus dem alten, bemerkenswert verschlagenen, seine Risiken vorsichtig kalkulierenden Geheimdienstler Putin (die Annexion der Krim für den Westen unterhalb der Schwelle von Eskalation, Bedrohung und Erschrecken bleibend) unerwartet ein Potentat wird, der aufs Ganze geht und einen offenen Angriffskrieg beginnt? Der offenbar nicht begreift, dass der Westen – im Fall der Zerstörung des fernen Syriens willkommen gleichgültig – nicht zynisch bleibt, wenn er sich selbst bedroht sieht. Gar nicht zu reden von der völligen Nichtwahrnehmung der Entwicklung der Ukraine zu einer Nation, wie sie in den beiden letzten Jahrzehnten Fahrt aufgenommen hat. Der „neue“ Putin möglicherweise abgeschirmt, abgeschnitten von der realen Lage, zum strategischen Idioten gemacht von seiner engsten Umgebung? Oder der Gefangene seiner eigenen, instinktiven Denkungsart, seiner lebenslang einzigen Weisheit: Wonach es auf dieser Welt immer das Klügste ist und sich in jedem Fall auszahlt, den Anderen zu verachten?

Der Verfasser war Privatdozent für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Konstanz.

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