Julian Bothe hat noch nicht aufgegeben. Im Nieselregen steht der Aktivist des Anti-Atomkraft-Vereins „Ausgestrahlt“ am Freitagnachmittag neben Dutzenden anderen Demonstranten vor dem Bonner World Conference Center und verteilt seine Presseinformationen. Kernaussage: Atomkraft ist nicht nötig – auch in diesem Winter nicht.
Der Stresstest des Bundeswirtschaftsministeriums gehe in die Irre. Die befürchtete Netzinstabilität sei nur zu erwarten, wenn zu viel Strom im Angebot sei, mehr als die Leitungen in der Lage sind zu transportieren. Warum aber soll ausgerechnet der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck in diesem Punkt mit falschen Zahlen operieren? „Parteitaktik“, tippt Bothe. „Die Grünen lassen sich von der FDP treiben.“

Bothe ist nicht der Einzige, der vor dem Tagungsort der Grünen mitten im Bonner Regierungsviertel demonstriert. Neben „Ausgestrahlt“ sind die Leute von Greenpeace da; Klimaaktivisten, die gegen den Kohleabbau in Lützerath Stimmung machen, auch wenn der eigentlich schon beschlossene Sache ist; Mitglieder von Fridays for Future, die den Grünen einen zu zögerlichen Klimaschutz vorwerfen. Weniger stark vertreten sind Friedensbewegte, die sich gegen Waffenlieferungen aussprechen. Bis auf den ebenfalls vertretenen Interessenverband „Die Familienunternehmer“, die sich mit magentafarbenen Plakaten für längere Atom-Laufzeiten stark machen, ist hier die klassische Grünen-Klientel versammelt.
„Früher waren wir diejenigen, die demonstriert haben“, sagt Gisela Kusche, Delegierte aus Konstanz nachdenklich. Dass die Leute, mit denen man einst auf der Straße war, nun gegen die grüne Linie Flagge zeigen, schockiert sie ein wenig. Aber es gehört wohl zu den Dingen, die man aushalten muss als Regierungspartei.
Der große Widerstand fällt aus
An den Auftakt ihres Bundesparteitags, der von Freitag bis Sonntag in Bonn stattfindet, hatten die Grünen gleich die brisanteste Entscheidung gestellt: die Debatte über die Atomkraft. Nach dem Willen der Parteispitze sollen zwei der drei noch am Netz befindlichen Akw im Notfall über den Winter weiterbetrieben werden können. Ein viermonatiger Aufschub des endgültigen Atom-Ausstiegs Deutschlands, den ausgerechnet eine grüne Regierungsbeteiligung möglich machen soll.

Etliche Anträge hatten vermuten lassen, dass es zu heftigen Auseinandersetzungen kommen könnte, doch am Ende ging alles glatt: Gegen 22.30 Uhr am Freitagabend, eine Stunde vor dem angesetzten Termin, stimmen die 870 grünen Delegierten mehrheitlich für Antrag, der im Wesentlichen das festschreibt, worauf sich die Spitzen der Ampelkoalition schon geeinigt haben, auch wenn FDP-Chef Christian Lindner das nun nicht mehr für verbindlich hält.
Auch von den größten Atomgegnern fast nur Unterstützung
Wer kontroverse Debatten, gar Streit auf offener Bühne erwartet hatte, wurde enttäuscht. Es fliegen keine Farbbeutel mehr auf Grünen-Parteitagen. Bis auf einen Redner, stellten sich letztlich alle Atomkraftgegner hinter die Linie von Robert Habeck. „Es gibt keinen vernünftigen Grund, die Atomkraftwerke zu verlängern“, setzte Sylvia Kotting-Uhl aus Karlsruhe, ehemals atompolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion, an, um folgendermaßen zu enden: „Der Vorschlag von Robert ist nicht vernünftig, aber klug. Stimmt dem zu.“
Etwas bissiger klang das bei Jürgen Trittin, der den Atomausstieg einst als Umweltminister der rot-grünen Regierung verhandelt hat und im Vorfeld des Parteitags mit vier Änderungsanträgen zum Thema für Wirbel sorgte. Doch letztlich auch von ihm: Rückendeckung für Habeck.

Lag es an der späten Stunde, auf die die Parteitagsregie das heiße Eisen Atomausstieg gesetzt hatte? Nicht nur. Dass die Schärfe aus der Diskussion verschwindet, dafür sorgt auch die Antragskommission, die in wochenlanger mühevoller Kleinarbeit Differenzen im Vorfeld auszuräumen sucht. So landen ganze Passagen von Trittins Änderungsanträgen im modifizierten Leitantrag – keinesfalls eine Ausnahme. Protest wird schon eingeebnet, bevor er seinen Weg auf die Bühne findet.
Noch etwas trägt entscheidend zur friedlichen Stimmung bei: Die Grünen sind sich ihrer Verantwortung als Regierungspartei bewusst, das diszipliniert auch die Delegierten. „Am Ende werden wir die Welt gerettet haben müssen“ ist ein Satz aus der Rede von Bundesgeschäftsführerin Emily Büning, der hängen bleibt. Die Wucht der Krisensituation lastet schwer auf den grünen Schultern.
Im Angesicht von Putins Krieg, von daraus resultierender Energiekrise und drohender Wirtschaftskrise wollen die Grünen das Richtige tun. Ein Tenor, der aus vielen Redebeiträgen herausscheint: Die Grünen übernehmen Verantwortung, stellen sich der unbequemen Realität, gehen auch schmerzhafte Kompromisse ein, wenn es nötig ist. „Vielen Dank für diese konstruktive Stimmung“, bedankt sich das Parteitagspräsidium immer wieder bei den Rednern.
„Am Ende werden wir die Welt gerettet haben müssen.“Emily Büning, Bundesgeschäftsführerin der Grünen
Der dritte Grund heißt Robert Habeck, seines Zeichens Wirtschaftsminister, der seit Amtsantritt damit beschäftigt ist, die Krisen an vorderster Front zu bekämpfen. Seinen Einsatz wissen die Grünen zu schätzen. Winfried Kretschmann, Baden-Württembergs Ministerpräsident, ist nicht selbst in Bonn, aber er lässt ein Video einspielen, in dem er dem Saal genau das vermittelt: „Wir sind es, die die Kuh vom Eis holen.“ Dass die Bundesregierung Gazprom Germania, Uniper, Lieferverträge aus aller Welt, zwei LNG-Terminals und gut gefüllte Gasspeicher auf die Reihe bekommt – „dazu kann ich wirklich nur eines sagen: Herzlichen Dank, lieber Robert!“
Habecks Appell an die Partei
In eine ähnliche Richtung geht der Beitrag von Nese Erikli, grüne Landtagsabgeordnete aus Konstanz, der das Losglück als ungesetzte Rednerin hold ist. Die grünen Minister hätten eine enorme Leistung gebracht, die könne man nun nicht im Regen stehen lassen. Eriklis Fazit: „Wer da heute nicht zustimmt, schadet uns allen massiv.“
Robert Habeck selbst liefert eine emotionale Rede, die Parteiseele bekommt eine Streicheleinheit: „Was müsst Ihr für Entscheidungen treffen?“ Nach dem Satz „Nie war ich so stolz auf die Partei“, man kann ihm die Rührung anhören, gibt es bereits Standing Ovations. Und nochmal zum Ende. Nach „Wir gehen dahin, wo‘s weh tut“ und „Putin darf nicht gewinnen“.
Für die Auseinandersetzung mit der FDP haben die Grünen die roten Linien abgesteckt: Keine neuen Brennstäbe und nach dem 15. April 2023 ist Schluss. Damit können die meisten Delegierten leben. „Es geht nur darum, durch den Winter zu kommen. Die Zeit der Atomenergie ist vorbei in Deutschland“, sagt Joshua Scherer (23) aus Schonach im Schwarzwald.
Auch Claudia Arnold (39) aus Wehr, die als Einzige den Kreisverband Waldshut vertritt, kann mit dem Kompromiss leben. Wichtig für sie: „Was ich auf keinen Fall will, ist, dass der Eindruck entsteht, dass wir darüber hinausgehen könnten.“
Könnte Habeck das noch, wenn es denn sein müsste? Dazu gibt es unterschiedliche Ansichten. „Habeck hat so viel Spielraum, wie ihm die Realität lässt“, sagt Johannes Kretschmann, Delegierter aus Sigmaringen-Laiz und außerdem Sohn des Ministerpräsidenten, vieldeutig. Gisela Kusche hingegen glaubt, dass Habeck dann bei der Partei untendurch wäre.
Und Sebastian Lederer (26), ebenfalls vom Kreisverband Konstanz, sieht gar keine echte Alternative zum nun abgesegneten Kompromiss. „Würde man das Atomausstiegsgesetz ändern, bräuchte das eine Mehrheit im Parlament, und dann gibt es auch keinen Streckbetrieb“, sagt der Bundestagskandidat von 2021.
Die brenzligen Themen gehen nicht aus. Am Samstag steht die Außenpolitik auf dem Programm – Ukraine, Iran, aber auch die umstrittenen Waffenlieferungen nach Saudi-Arabien. Am Sonntag kehrt das Thema Energie unter veränderten Vorzeichen zurück: „Die Klimakrise als Menschheitsaufgabe“ heißt der Leitantrag der Parteiführung dazu. Fridays-for-Future-Aktivistin Luisa Neubauers Rede dazu wird mit Spannung erwartet. Akw laufen lassen, ist das eine. Kohlekraftwerke wieder anzuwerfen, ist jedenfalls aus Klimasicht problematischer.