Innerhalb der Nato sind zwei Sichtweisen zu Russlands Präsident Wladimir Putin und seiner Expansionspolitik im Spiel, zwei Paradigmen, wenn man so will: grundverschieden und jeweils verankert in einer Spezifik der historischen Erfahrung und der politisch-ökonomischen Interessenlage.

Für das eine hat Putin gezeigt, dass er bereit ist, über andere Länder herzufallen, auch und gerade in Europa. Dass die militärische Gewalt und der Bruch des Völkerrechts unabdingbar zum Kern seines Instrumentariums gehören.

Eine Macht im Niedergang

Die Gelegenheit dazu muss sich ihm nur bieten – wie 2008 in Georgien oder 2014 und jetzt wieder in der Ukraine. Wenn die Gelegenheit aus seiner Sicht günstig erscheint, wird er es immer wieder tun. Wenn nicht heute, dann morgen oder übermorgen. Diesem Modell folgen Beobachter und führende Politiker im Baltikum, in Polen, in Rumänien – einem Anrainer am Schwarzen Meer, das von Russland zunehmend beansprucht wird.

Von hier aus eröffnet sich auch der Blick auf eine Macht im Niedergang; auf einen Staat, der der eigenen Bevölkerung wenig bis nichts zu bieten hat und seine zerfallende Legitimationsbasis mit Repression nach innen und aggressiver Geopolitik nach außen zu kompensieren sucht.

Frieden nur mit, nicht gegen Russland?

Vor allem in Deutschland, aber auch in Westeuropa und im Westen überhaupt sieht man es anders: Hier ist Putin-Russland in seiner politischen Ausrichtung noch unfertig, amorph, im Fluss. Man kann auch sagen: abgründig, irritierend vielgesichtig, chaotisch-unberechenbar. Es ist ein gewissermaßen entgleister, ins Weglose abdriftender Partner.

Aber eben immer noch ein Partner, den man im eigenen Interesse zu verstehen suchen muss. Und der mittels Diplomatie, also über die kluge, geschmeidige Kombination von Festigkeit und Entgegenkommen für unsere Welt, für unsere Vorstellung von Weltordnung zurückgewonnen werden kann. Und unbedingt sollte.

Aus diesem Deutungssystem stammt der Grundsatz: „Der Frieden in Europa (und sonstwo) lässt sich immer nur mit Russland sichern, nicht gegen Russland.“ Den Gedanken daran, dass dieser vermeintlich unverzichtbaren Säule jeglicher Sicherheit und Stabilität schon längst selber der Boden weggebrochen ist, verscheucht man besser.

Wie soll es mit der Ukraine weitergehen?

Im Dazwischen, im gedanklichen Niemandsland zwischen diesen beiden Weltbildern, kann man sich kaum auf Dauer niederlassen. Man wird schon für sich abklären müssen, wie man es denn nun sieht. Jedenfalls wenn man nicht gerade ein deutscher Sozialdemokrat ist, der es immer schon wusste und seinen Kompass für alle Zeit aus der „Ostpolitik“ Egon Bahrs bezieht.

Denn sonst – in der anhaltenden Unschlüssigkeit des Denkens – kann man für sich als Bürger auch nicht entscheiden, wie es aktuell mit der Ukraine weitergehen soll. Aufrüstung, Aufnahme in die Nato? Oder irgendeine Spielart von „Finnlandisierung“, d.h. Beschränkung der staatlichen Souveränität, eine in Absprache von den Großen oktroyierte „Neutralität“ des Landes? Es bleiben einem nur Worte der Solidarität und der Treue, moraltriefend und leer.

Wie es uns ja auch jeden Tag aus Kiew oder Warschau oder Vilnius vorgehalten wird. Mit ätzender Deutlichkeit.

Der Verfasser ist Historiker und lebt in Konstanz. Er hat als Privatdozent für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Konstanz gelehrt.