Frau Pietrow-Ennker, wie weit hat sich Polen schon von der EU entfernt?
Leider hat sich Polen nach den rechtstaatlichen Normen bereits weit entfernt: Am gravierendsten ist wohl die Aufhebung der Gewaltenteilung, die die polnische Regierung unter Führung der rechtspopulistischen Partei Recht und Gerechtigkeit vornimmt. Das politische Ziel dabei ist offensichtlich: durch eine Politisierung der Justiz und unter Ausnutzung der absoluten Mehrheit im Parlament die eigene Machtbasis in Staat und Gesellschaft auszubauen. Für die Institutionen der EU ist es schwierig, Sanktionen gegen Polen durchzusetzen, weil diese Einstimmigkeit erfordern. Ungarn, das einen ähnlich autoritären politischen Kurs eingeschlagen hat, unterstützt Polen.
Ist das ein Visegrád-Phänomen?
Generell sympathisieren die Visegrád-Staaten mit Reformen, die man eher reaktionär als konservativ bezeichnen könnte, und sie versuchen, innerhalb der EU an Einfluss zu gewinnen und den Europäisierungsprozess im eigenstaatlichen Interesse zu hemmen.
Die Gewerkschaft Solidarnosc hat einst die Revolution angestoßen. Warum nimmt das Land jetzt wieder autokratische Züge an?
Es gibt in der polnischen politischen Kultur, die von jahrhundertelangen Aufstandstraditionen gegen fünf Teilungen in der Geschichte des polnischen Staatswesens geprägt ist, keinen größeren Mythos als den der Freiheit der Nation. Die verschiedensten Strömungen wurden durch das Ziel geeint, den Kommunismus zu stürzen, sich von der politischen Vormundschaft der Sowjetunion zu lösen und Polen als Republik wiederauferstehen zu lassen. Seither geht es um die Prägung der nationalen Identität. Auch die außenpolitische Positionierung Polens ist davon betroffen. Wo Polens Platz in Europa ist, ist ebenfalls eine jahrhundertealte, umstrittene Frage, um deren Antwort weiterhin gerungen wird.
Noch unter der Regierung von Ex-Premier Donald Tusk, dem heutigen EU-Ratspräsidenten, sah alles anders aus.
Polen schien sich dynamisch auf den Weg nach Europa zu machen, als es von der neoliberalen Bürgerplattform (PO) unter Tusk geführt wurde. Dessen Regierung hatte dem Land zwar ökonomische Prosperität beschert, es jedoch versäumt, dringende sozialpolitische Reformen zu verabschieden. Mit einem gestaffelten Kindergeld konnte PiS bei den Parlamentswahlen punkten. Ihre politische Propaganda zielt auf die Nöte der kleinen Leute ab, wirkt jedoch widersprüchlich und unbezahlbar.
Welche Folgen hat die Politik der PiS?
Mit ihrer Politik spaltet PiS die polnische Gesellschaft tief. Viele erinnern die autoritären Herrschaftsformen, die man auch durch eine vollkommene Kontrolle der Medien anstrebt, an die verhassten kommunistischen Zeiten. Es fehlt an einer geeinten, starken Opposition. Stattdessen findet die PiS Unterstützung durch große Teile des katholischen Klerus. Auch der rechtsradikale Rand des politischen Spektrums wird von der Regierung toleriert, um Wähler abzuschöpfen.
Fragen: Mirjam Moll