Herr Leonhard, die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg hat durch die Feiern zum 100. Jahrestag des Waffenstillstands Auftrieb erhalten. Dennoch sind Namen wie „Ypern“ oder „Langemark“, die früher jedes Kind kannte, heute fast vergessen. Woran liegt das?
Das hat sehr viel damit zu tun, dass in Deutschland der Zweite Weltkrieg und der Holocaust den Ersten Weltkrieg lange Zeit zu einer Art Vorvergangenheit gemacht haben, zu einer Vorgeschichte für die Phase ab 1933. Deshalb hat sich in Deutschland für diesen Krieg nie die Bezeichnung eingestellt, die er in Großbritannien, in Belgien und in Frankreich hat, nämlich „The great war“ oder „La grande guerre“ als traumatisches Scharnier am Beginn des 20. Jahrhunderts. Auch der November 1918 und der Versailler Friedensvertrag wurden zu einer Art Vorgeschichte für den Beginn des NS-Staats 1933 und den Zweiten Weltkrieg.
Inzwischen sehe ich allerdings, dass sich am Blick auf den Ersten Weltkrieg auch bei uns etwas geändert hat . . .
Das ist auch meine eigene Erfahrung. Man hat seit dem Gedenkjahr 2014 unterschätzt, wie viele Menschen sich neu für diesen Krieg interessieren. Viele Deutsche haben diesen Weltkrieg wiederentdeckt, weil es in den Familien in der Generation der heute 60- bis 70-jährigen viele Erinnerungen gibt an die Generation der Eltern oder Großeltern, die die Zeit des Krieges erlebten und die zum Beispiel einen Feldpostbrief oder ein Tagebuch oder alte Fotos hinterließen. Zudem gab es allein 2014 mehrere hundert lokale und regionale Ausstellungen in Deutschland. Und ein Drittes kam hinzu: Die beginnende Ukraine-Krise, das Aufkommen von autokratischen Politikern in der Welt, die Konflikte im Nahen Osten, und die teilweise weiter instabile Lage im ehemaligen Jugoslawien. Alle diese Konflikte, das wurde vielen klar, haben etwas mit dem Ersten Weltkrieg und seinen Folgen zu tun. So wurde aus einer Vorvergangenheit eine mit unserer Gegenwart vielfältig verknüpfte Vergangenheit. Es ist gut, dass sich das verändert und dass so auch die Anfänge der Weimarer Republik aus dem Schatten von 1933 herausgenommen werden.
Wie beurteilen Sie das französische Erinnern an den Krieg vor dem Hintergrund, dass Deutschland in Compiègne immer noch als krimineller Aggressor gebrandmarkt wird? Liegt Frankreich mit dieser Erinnerungskultur richtig?
Eine gute Frage. Zunächst: Was jetzt bei den Jubiläumsfeiern passiert ist, ist im Vergleich zu den Erinnerungsakten der letzten Jahrzehnte schon außergewöhnlich. Compiègne – wo der Waggon stand, in dem die deutsche Delegation den Waffenstillstandsvertrag unterzeichnen musste – war ein nationalpatriotisch grundierter Ort für das französische Gedächtnis. Dass der französische Staatspräsident Macron die deutsche Kanzlerin eingeladen hat, war außergewöhnlich, und das gilt auch für den gemeinsamen Eintrag in das Goldene Buch. Dann wurde neben die revanchistisch formulierte Gedenkplatte von 1918/19 eine andere Platte gelegt, die den Aspekt der Aussöhnung aufnimmt. Das ist mehr als nur eine kleine Geste.
Zugleich erhält sich in Frankreich das Bewusstsein, auf der richtigen, auf der Siegerseite, gestanden zu haben . . .
Macron hat versucht, drei Aspekte miteinander zu vereinbaren: Die nationalfranzösische Erinnerung, die den Sieg der demokratisch-egalitären Republik über die autokratische deutsche Militärmonarchie würdigt; dann die Europäische Union als Konsequenz von zwei verheerenden Weltkriegen und als Reaktion auf die derzeitige Krise der Union und schließlich das globale Element. Denn Macron muss auch die Kriegsleistungen der Kolonialsoldaten würdigen. Aber man sieht auch, wie widersprüchlich es sein kann, diese Erinnerungsrichtungen in eine Balance zu bringen. Trotzdem: Es ist jetzt – im Vergleich zu einer jahrzehntelang geübten Praxis – ein neuer Akzent gesetzt worden: Man hat die Vertreter Deutschlands nach Compiègne und Paris eingeladen und dort ansatzweise auch die Kategorien von 1918, von Siegern und Besiegten, überwunden. Auffällig ist, dass Macron das Militärische an den Zeremonien weitgehend reduziert hat. Das ist mit Blick auf die bisherige französische Erinnerungskultur außergewöhnlich.
Neuartig ist ja auch, dass Bundespräsident Steinmeier zur Kranzniederlegung in London eingeladen war . . .
Genau. Bedeutend ist, dass Steinmeier bei dieser sehr britischen Zeremonie nicht nur anwesend war, sondern einen Kranz niederlegen durfte – eine neue Qualität der Erinnerungskultur im deutsch-britischen Verhältnis.
Sollte es bei uns verpflichtend werden, einmal in der Schulzeit einen Schauplatz des Ersten Weltkriegs zu besuchen?
Ich halte davon nichts. Die erste Reaktion wäre die Forderung dann auch eine KZ-Gedenkstätte zu besuchen – eine Art Wettlauf würde beginnen. Man muss aufpassen, dass aus einer guten Idee kein oktroyierter Erinnerungsreigen wird. Zu einem guten Geschichtsunterricht gehört der Besuch einer Erinnerungsstätte mit Merkheftchen, aber nicht als Pflichtveranstaltung. Deshalb halte ich den Vorschlag meines Kollegen Gerd Krumeich, der eine bundesweite Schweigeminute am 11. November vorschlug, für abwegig. Denn so ein Gedenken muss organisch verankert sein, es darf nicht künstlich und verordnet wirken, sonst erreicht man das Gegenteil von dem, was man erzielen wollte.
Fragen: Alexander MichelZur Person
Jörn Leonhard, 51, ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte Westeuropas an der Universität Freiburg. Sein neues Buch macht klar, dass dem Ersten Weltkrieg kein wirklicher Frieden folgte, weil die Politiker nicht in der Lage waren, neuen Konflikten vorzubeugen.
Buchtipp: Jörn Leonhard, Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918-1923, Beck-Verlag, 39,95 Euro.