Andrea Kümpfbeck

Die Häute glänzen goldbraun in der Herbstsonne. Sie sind durchtränkt von Fischöl – und steinhart. Hunderte Häute sind es, die hier monatelang an Haken auf dem Dachboden ausreifen, unterbrochen nur von einem weiteren Bad in Fischtran. All diese Tierhäute sind ein ungewöhnlicher Anblick mitten in der Augsburger Altstadt. In der Gerberei Aigner wird dort noch immer das produziert, was schon der Ururgroßvater von Firmenchef Thomas Aigner hergestellt hat: handgemachte, sämisch gegerbte Lederhosen – quasi die Rolls-Royce unter den Lederhosen.

Sie sind ein Kulturgut, das die ganze Welt mit Bayern verbindet – wie das Bier, die Alpen, das Dirndl. Aber wie ist dieser Mythos um die Lederhose entstanden? Wie konnte ein Kleidungsstück, ein simpler Gebrauchsgegenstand, so populär werden, dass er längst Dresscode fürs Oktoberfest ist? Und dass inzwischen sogar die Discounter Billig-Lederhosen anbieten?

Handgefertigte Lederhosen sind nicht wie beim Discounter für 39,90 Euro zu haben. In der Augsburger Gerberei Aigner, wo das Bild ...
Handgefertigte Lederhosen sind nicht wie beim Discounter für 39,90 Euro zu haben. In der Augsburger Gerberei Aigner, wo das Bild entstand, muss man mindestens mit 500 Euro rechnen.
Bild: Ulrich Wagner | Bild: Ulrich Wagner

Es genügt ein Blick in die Bierzelte am ersten Wiesn-Wochenende in München. Promi oder Nicht-Promi, Münchner oder Australier, Oberstudienrat oder Lkw-Fahrer: Fast jeder Mann trägt eine Lederhose. Eine kurze meist. „Dabei wäre vor 35 Jahren kein Mensch auf die Idee gekommen, eine Lederhose auf die Wiesn anzuziehen“, sagt Gerber Thomas Aigner, 58. Lediglich ein paar Hinterwäldler aus dem Dachauer Land seien damals in Tracht gekommen.

Auch auf Fotos von Bauernhochzeiten Ende des 19. Jahrhunderts trägt niemand eine Lederhose. „Die Männer haben schwarze Anzüge an“, sagt Aigner, „keiner wäre in kurzen Hosen zu einer Hochzeit gegangen.“ Ist die neue Partykleidung also vielleicht gar kein Jahrhunderte altes Stammessymbol der Bayern? „Nein, das ist eine Mär“, sagt Thomas Aigner. „Die Lederhose ist kein speziell bayerisches Produkt.“ Schon Ötzi hüllte sich vor gut 5000 Jahren in ein Fell, um sich zu wärmen. Auch die Germanen hätten sich Tierhäute um die Beine gewickelt. „Das hat sich im Laufe der Jahre weiterentwickelt“, sagt Aigner. Bis zur Hose eben, die – egal aus welchem Material – immer aus zwei Beinen besteht, die oben zusammengenäht sind.

"Die Lederhose ist kein speziell bayrisches Produkt." – Thomas Aigner, Gerber und Lederhosen-Schneider (m)
"Die Lederhose ist kein speziell bayrisches Produkt." – Thomas Aigner, Gerber und Lederhosen-Schneider (m) | Bild: Ulrich Wagner

Da ist es nur logisch, dass Ende des 18. Jahrhunderts die Menschen die Idee hatten, für Hosen Tierhäute zu verwenden. Die sind stabil, widerstandsfähig, warm – und nach jeder Tierschlachtung erhältlich. „Früher gab es in jedem Ort einen Gerber“, sagt Aigner, wie einen Bäcker und einen Metzger.

Mit einem weiteren Irrtum räumt Alexander Wandinger, der Leiter des Trachten-Informationszentrums in Benediktbeuern, auf: Die Lederhose ist nicht, wie viele glauben, als Arbeitskleidung der Bauern entstanden. „Die hätten sich eine Hose aus Leder gar nicht leisten können“, sagt er. Außerdem war sie unpraktisch für die Arbeit im Wald und auf dem Feld. Bei Regen „bringt man die nicht mehr trocken“, sagt Wandinger, „da holt man sich Rheuma oder eine Blasenentzündung“.

Nur die Großbauern und der Adel trugen um 1800 Hosen aus Leder – eine Modeerscheinung jener Zeit. Im Lauf des 19. Jahrhunderts wurde Leder vom Loden verdrängt – bis die kurze Lederhose verschwand. Was der Lehrer Josef Vogl, ein Revoluzzer, bedauerte. Zusammen mit vier Stammtischfreunden gründete er 1883 in Bayrischzell den ersten bayerischen Trachtenverein. Um den Untergang der Lederhose, dieser „uralten Tracht“, wie er glaubte, zu stoppen. Damit begann die Erfolgsgeschichte der Lederhose. Die Trachtenbewegung pflegt bis heute die Mär, dass die Lederhose als Teil der Tracht immer zu Bayern gehört hat.

Lederhosler fliegen aus der Kirche

Die fünf jungen Burschen aus Oberbayern jedenfalls ließen sich beim Säckler kurze Hosen aus dickem Leder schneidern, die damals noch unverziert waren. Als die fünf am Sonntag in die Kirche gingen, wurden sie von den Einheimischen verlacht. Und flogen raus. Noch 1913 wurden die Kurzhosenvereine vom erzbischöflichen Ordinariat in München für sittenwidrig erklärt. Unterstützung bekamen die Lederhosenfreunde von den Wittelsbachern, die schon lange die Idee von einer Völker verbindenden bayerischen Tracht begeisterte. König Maximilian II. ging in graugrüner Jacke und Lederhose zur Jagd, ebenso wie der Habsburger Kaiser Franz Josef – um sich beim Volk anzubiedern. „Aber das machen die Politiker in ihren Trachtenjankern heute ja nicht anders“, sagt Aigner.

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Nach dem Ersten Weltkrieg, als der Alpentourismus einsetzte, nahmen die Urlauber die Trachten der Naturburschen und Fingerhakler als Botschaft mit nach Hause. Zu den Mitbringseln gehörte oft eine Lederhose. Das war eine Mode, wie es sie heute wieder ist. Gerade sind Lederhosen in Antiktönen in: in Grau, Beige, Braun auf Alt gefärbt. „Das hätte vor Jahren auch noch keiner gemacht“, sagt Gerber Aigner.

Billige Massenware aus Fernost

Längst haben Gerbereien in Fernost die Lederproduktion übernommen. Die sämische Gerbung, die spezielle Art der Haltbarmachung mit Fischöl und viel Geduld, schafft die Industrie trotz all der Chemie, die im Einsatz ist, aber bis heute nicht. „Vor zehn Jahren“, sagt Aigner, „hätte ich gesagt, dass wir von Pakistan oder Bangladesch abgelöst werden“, wo inzwischen 99,9 Prozent der Billig-Lederhosen produziert werden. Aber es gibt eine Gegenbewegung. Weil eine handgemachte Lederhose eine Rarität ist, wollen sie viele haben. Entweder ererbt vom Großvater, eine Gebrauchte vom Flohmarkt – oder eben aus einem edlen Trachtenladen. 1000 Euro sei man da schnell los. Bei Aigner kostet das maßgeschneiderte Grundmodell 550 Euro, für die Bestickungen kommen 200 bis 500 Euro dazu.

Wer das Grundmodell der Hose bei Aigner reich verzieren lassen will, muss dafür nochmal 250 bis 500 Euro ausgeben. Am Ende ist die ...
Wer das Grundmodell der Hose bei Aigner reich verzieren lassen will, muss dafür nochmal 250 bis 500 Euro ausgeben. Am Ende ist die Lederhose eine Investition von 1000 Euro. Aber man kann noch mehr ausgeben. | Bild: Ulrich Wagner

Und wer liefert das Leder? Überwiegend Rothirsch, aber auch Gams, Reh, Elch oder Ziege. Die Hirschfelle kommen vor allem aus Neuseeland, inzwischen aber auch immer häufiger wieder aus deutschen Wäldern. Vom rohen Fell bis zur fertigen Lederhose dauert es etwa ein halbes Jahr, erzählt Aigner und zeigt die Gerbfässer, in denen von der Enthaarung des Leders, dem Waschen und Spülen bis zum Tränken mit Dorschtran alle Arbeitsschritte ablaufen. Da wird das Leder mit Enzymen weich gemacht, bis es sich zart anfühlt. Es wird geschliffen und geklopft, getrocknet und poliert. Viele Arbeitsschritte, die hohes Wissen erfordern – und die die rohe Haut schließlich haltbar machen. Wenn’s sein muss, ein Leben lang. Denn eine Lederhose, sagt Aigner, „wächst fünf bis sechs Kilo mit und kann nicht kaputtgehen“.

Zwei Varianten der Trachten-Lederhose

  • Kniebundhose: Bis Anfang des 19. Jahrhunderts war im europäischen Raum die Kniebundhose aus Loden oder Leder beliebt, beim Adel auch aus Seide. Sie entwickelte sich aus der französischen Culotte und wurde an Fest- und Feiertagen vor allem in Ostbayern, im Salzburger Raum, in Tirol, im Allgäu, in der Steiermark und in Kärnten getragen.
  • Kurze Lederhose: Die kurze Lederhose hat sich durch die Trachtenvereine im Alpenraum als das bayerische Kleidungsstück par Excellence weltweit verbreitet. Dabei war sie als Hose für die Jagd und den Alltag so gut wie ausgestorben, als Josef Vogl 1883 den ersten bayerischen Trachtenverein gründete. Die Hosen der Trachten und Musikvereine sind in der Regel schwarz gefärbt. Die kurzen Lederhosen in Franken sind weiß. (AZ)
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