
So viel Aufhebens um einen Radfahrer zu machen, das kommt einem schon seltsam vor. Dabei will ich doch nur einen Kaffee trinken. Jeder Gast in dem Café begrüßt mich mit Handschlag. Die kennen mich nicht, ich kenne sie auch nicht. Es ist Sonntag. Ich nehme Platz draußen auf der kleinen Terrasse auf einem ausgebleichten Plastikstuhl an einem ebensolchen Tisch. L‘Isle-sur-le-Doubs heißt der Ort. Das Café ist eher eine Spelunke, aber ein anderes war nicht zu finden. Es liegt an einem riesengroßen, asphaltierten Platz, der völlig schmucklos ist.
Die Auswüchse der Landflucht
Wer ein Beispiel sucht für das, was in Frankreich unter dem Schlagwort désertification des campagnes, zu deutsch Landflucht, läuft, der ist in L‘Isle-sur-le-Doubs richtig.


Diese etwas triste Insel im Doubs, deren einziger Schmuck die Blumenkästen am Geländer der Flussbrücken zu sein scheinen, und deren Einwohner bei beiden Wahlgängen der Präsidentschaftswahlen im Mai 2017 mehrheitlich für Marine Le Pen stimmten, liegt an der Strecke eines wunderbaren Fernradwegs: Eurovelo 6. Er verbindet Constanta in Rumänien am Schwarzen Meer mit Nantes an der französischen Atlantikküste.
Ein Luxusradweg am Doubs
Als wahrer Luxusradweg wird er in Frankreich entlang des Doubs-Flusses geführt.

Glatter Asphalt, kaum Kontakt mit Autostraßen, gute Wegweisung und ein Profil, das es auch weniger trainierten Radlern erlaubt, flott voranzukommen, machen den Eurovelo 6 zu einem Radweg für Genießer. Der Doubs schlängelt sich beinahe verspielt durch eine idyllische Landschaft.
Anstieg auf die Zitadelle
In Besançon freilich wird man auf einen Anstieg nur ungern verzichten. Das Zentrum liegt in einer Flussschleife des Doubs und von da an geht es steil nach oben zur Zitadelle.

Diese riesige Festung, die zum Weltkulturerbe gehört und im 17. Jahrhundert von Vauban erbaut wurde, dominiert die Stadt und bietet vom Wehrgang aus eine herrliche Aussicht nicht nur auf die Stadt, sondern auch in die Flusswindungen des Doubs. Die Burggräben besiedeln Berberaffen, in einem Gehege faulenzen zwei Tiger – man hat dort einen kleinen Zoo eingerichtet, und oben, am Rande des Selbstbedienungsrestaurants, freuen sich Kinder an einem schönen Wasserbecken, in dem sich bunte Koikarpfen tummeln.

Ein Minizeltplatz bei Orchamps direkt am Radweg und direkt am Doubs kommt am Abend wie gelegen. Vor dem rustikalen Abendmahl gönne ich mir ein Bad im Fluss. Danach gibt‘s ein nettes Schwätzchen mit einem vollbärtigen Dänen, der den zweiten Sitz eines Tandems zum Gepäckabteil umgebaut hat und auf einen Freund wartet. Dieser Freund, den kenne ich auch schon. Er ist Winzer aus Santenay in der Côte d‘Or und erkundet den Eurovelo 6 mit einem Transportrad, auf dem er Bosco, seinen großen, elf Jahre alten Hund, mitnimmt. Er war am Vorabend mein Zeltnachbar in Baume-les-Dames gewesen.
Häufige nette Wiedersehen
Fernradwege sind auch Kontaktbörsen. Immer wieder trifft man Radler, die man zuvor schon gesehen hat, und ist gespannt, wann man sie wiedertrifft. Eine Frau aus Lyon in Orchamps sehe ich wieder in Dôle, den Dänen und den Winzer übrigens auch.

Die beiden fahren im Flusstal des Doubs durch die städtischen Parkanlagen unterhalb des Zentrums an der Stadt vorbei. Da tun sie unrecht, denn in dem quirligen Zentrum, in dem gerade Markt ist, scheint désertification kein Thema zu sein. Der Markt ist gut bestückt und gut besucht, man trifft sich, man quatscht – die Jura-Kleinstadt zeigt die lieblichen Seiten des ländlichen Frankreich.

Ein Ziel für Pilger
Glücklich die Orte, die Kulturinteressierten etwas zu bieten haben. Da ist beispielsweise Paray-le-Monial mit seiner Basilika Sacré-Cœur aus dem 12. Jahrhundert. Der stilreine Bau aus der Romanik, gerne auch als Klein-Cluny bezeichnet, lockt Pilger in die schön herausgeputzte Stadt, der man den Wohlstand auch ansieht.
Der Kanal über der Loire
Paray-le-Monial liegt am Canal du Centre, der die Saône, der wir von Verdun-sur-le-Doubs bis Chalons-sur-Saône gefolgt sind, mit der Loire verbindet. Und auf die Loire, dem längsten Fluss Frankreichs, trifft der Eurovelo-6-Fahrer in Digoin. Mit einer ganz besonderen Sehenswürdigkeit: Dort führt der Canal du Centre in den Loire-Seitenkanal und wird seit 1834 auf einer Brücke über die Loire geführt.

Wer unten am Zeltplatz des Ortes am Loire-Ufer steht, der stutzt, wenn er Boote auf einer Brücke hoch über dem Fluss gleiten sieht.

Aber die Deindustrialisierung des Landes bleibt Thema. Verfallende Fabrikgebäude sieht man immer wieder, und die Einwohnerzahlen selbst mittlerer Städte wie Nevers, immerhin Sitz des Département Nièvre, gehen drastisch zurück. „Wir müssen endlich wieder produzieren“, sagt mir ein 80-jähriger Mann, den ich auf leer stehende Häuser in eben diesem wirklich reizenden Nevers anspreche. Immer nur auf Dienstleistung zu setzen, das sei der falsche Weg, sagt er.

Ich erzähle ihm von der stillgelegten Reifenfabrik in Decize, knapp 40 Kilometer vor Nevers, die ich am Tag zuvor gesehen hatte. Die kennt er sehr gut, er hatte selbst dort bis zur Rente gearbeitet, zusammen mit 2200 anderen Mitarbeitern. Heute seien dort gerade noch 250 Leute beschäftigt. Industriebrachen entlang des Doubs, entlang der Saône und nun der Loire bis Nevers – sie sind die melancholische Begleitmusik der Radreise, die genau dadurch ihren besonderen Reiz erhält.
Auf dem Radweg Eurovelo 6
- Anreise: Mit dem Zug zum Beispiel
ab Singen über Basel, Mulhouse und Belfort nach Montbeliard. Rückreise von Nevers über Dijon, Mulhouse und Basel
nach Singen. - Radweg: Strecke von Montbéliard nach Nevers auf guten und sehr guten Radwegen, meist abseits der Straßen geführt. Die Gesamtdistanz beträgt gut 500 Kilometer. Lohnenswert sind Abstecher in die Weingegend südlich von Beaune.
- Übernachtung: Zeltplätze entlang
der Route gibt es so, dass man größere oder kleinere Etappen zurücklegen kann. Preise zwischen 6 und 13 Euro pro Nacht für ein Zelt, eine Person und das Rad. - Im Internet:
https://de.eurovelo6-france.com