Für die Alpen ist die Parole „Ski und Rodel gut“ längst nicht mehr alles. Werbeslogans wie „Hochge­nüs­se im Hochgebirge von Ischgl“ lassen spontan an ganz andere Vergnügungen als Skifahren und Bergwandern denken: an Après-Ski und Remmidemmi, den ganzen Unterhal­tungszirkus, für den Ischgl, die selbsternannte „Life­style-Metropole der Alpen“, seit Corona ein Synonym ist.

Die Anfänge dieser Vergnügungskultur freilich liegen weit zurück. Schon vor hundert Jahren wurde für Alpen-Touristen ganz schön was geboten. Als Ernst Ludwig Kirchner 1917 nach Davos kam, war er körperlich wie seelisch gezeichnet vom Ersten Weltkrieg. In dem Schweizerischen Gebirgsort suchte der berühmte Künstler Ruhe und Genesung von physischen wie psychischen Leiden. In der naturverbundenen, in den gleichförmigen Takt der Jahreszeiten eingebetteten bäuerlichen Welt der Alpen erholte er sich von den Schrecken des Kriegs und fand gleichzeitig Abstand zur nervösen Hektik und Betriebsamkeit großstädtischen Lebens, wie er es in Berlin erlebt hatte. Einerseits.

Andererseits war Davos in den über zwei Jahrzehnten, in denen Kirchner dort lebte (er starb 1938), auch bereits ein professionell vermarktetes touristisches Produkt. Nicht zuletzt das nehmen wir als Erkenntnis aus der Ausstellung der Städtischen Galerie Bietigheim­-Bissingen mit Werken des großen Expressionisten mit.

Denn Skifahren und Wandern war offenbar schon damals zu wenig. Den Touristen musste mehr geboten werden – etwa die Möglichkeit, Tennis zu spielen, mit der Kutsche zu fahren oder Motor­rad­rennen zu besuchen. In den ausgestellten Holzschnitten und Zeichnungen Kirchners der Zwanzigerjahre sieht man auch Menschen beim Bogenschießen oder Kegeln. Selbst Radrennen gehörten zu den alpinen Freizeitvergnügungen, wie ein Holzschnitt von 1927 belegt.

Ernst Ludwig Kirchner: Bogenschützen, um 1935.
Ernst Ludwig Kirchner: Bogenschützen, um 1935. | Bild: Kirchner Museum Davos

Der Fokus der Ausstellung liegt freilich auf anderen Motiven. „Tierleben in den Alpen“ heißt die Schau mit rund 70 Werken. Die Sorge des Künstlers, der, eine Spätfolge seiner traumatischen Kriegserlebnisse, von Lähmungserscheinungen geplagt wurde – die Sorge, niemals wieder malen zu können -, sie erwies sich als grundlos. Alsbald nahm er wieder den Pinsel in die Hand und malte. Und offenbar hatten die Natur und die mit ihr verbundene bäuerliche Welt eine derart wohltuende Wirkung auf ihn, dass er sie zu zentralen Motiven seiner Bilder, Zeichnungen und sogar Skulpturen machte – ein starker und erstaunlicher Gegensatz zu den urbanen Szenen, die in der Berliner Zeit dominierten.

Ernst Ludwig Kirchner: „Drei Bauern“, 1936/37.
Ernst Ludwig Kirchner: „Drei Bauern“, 1936/37. | Bild: Privatsammlung Schweiz

Mit der bäuerlichen Welt seiner unmittelbaren Davoser Umgebung fanden zahlreiche Tiere Eingang in seine Kunst. Einmal abgesehen von den Pferden seiner Zirkusszenen oder den Katzen der Fränzi-Bilder hatten vor Davos Tiermotive bei Kirchner kaum eine Rolle gespielt. Jetzt dagegen tauchen in unzähligen Gemälden und Zeichnungen Schafe und Ziegen, Kühe oder – in Bildern mit Schlittenmotiv – auch Pferde auf. Zur Abwechslung springt in der ausdrucksvollen Landschaft von „Schneeschmelze“ (1919) im Vordergrund eine getigerte Katze durchs Bild.

Kirchners künstlerische Meisterschaft bewährt sich eindrucksvoll auf dem für ihn neuartigen Motivfeld. Die mit farbigen Kreiden und rascher Hand auf den Karton geworfenen „Bergziegen“ von 1920 etwa sind außerordentlich ausdrucksstark. Und in dem beinahe ans Abstrakte grenzenden Holzschnitt „Ziegen im Föhn“ von 1918 muss man die Tiere aufgrund der kühnen Reduktion der bildsprachlichen Mittel förmlich suchen: Kirchner ist mit seinen so modernefremd anmutenden Motiven auf der Höhe der Kunst der Zeit. Zwei Jahre später entstanden ist das bereits in der Farbgebung expressive Holzrelief „Ziege II“: Das Tier erscheint blau auf orangefarbenem Grund.

Die Stars von Kirchners Malerei und Graphik aber sind – Kühe. Offenbar empfand der Künstler eine starke Zuneigung zu den sanftmütigen Wiederkäuern, die mit ihren gemächlichen, gleichsam im Zeitlupentempo erfolgenden Bewegungen den denkbar schärfsten und wohltuenden Kontrast zum stakkatoartigen Zerstörungspotential der Welt des Krieges bilden, in dem Kirchners Kriegstrauma wurzelte.

Ernst Ludwig Kirchner: Kühe im Gebirge, um 1919/22, Aquarell, Tusche auf Papier.
Ernst Ludwig Kirchner: Kühe im Gebirge, um 1919/22, Aquarell, Tusche auf Papier. | Bild: Museum Biberach, Leihgabe aus Privatbesitz

Kühe, immer wieder Kühe – selbst in der um 1925 entstandenen Skulptur „Bauer mit Kuh“ werden sie zum Motiv. Die künstlerische Relevanz, die Kirchner dem so unambitioniert anmutenden Motiv abgewinnt, ist bemerkenswert. So resultiert die Kraft des Ausdrucks des frühen Davoser Holzschnitts „Zwei grasende Kühe“ von 1917/18 aus dem ungewöhnlichen Blickwinkel der Vogelperspektive.

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In einem weiteren Holzschnitt – „Kühe vor dem Stall“ – entspringt Expressivität aus dem ungeordneten Durch- und Miteinander von Mensch und Tier; im Aquarell „Kühe im Gebirge“ aus der ungewöhnlichen Bewegtheit der Tiere. Während bei der Kreidezeichnung „Weidende Kühe mit Melker“ die ausdrucksstarke Körperhaltung das Besondere ist. In dem Holzschnitt „Alter Hirt mit Kühen“ gewinnen die neben und hinter der Figur auftauchenden Tiere eine starke, beinahe ins Dämonische spielende Präsenz.

Städtische Galerie Bietigheim-Bissingen, Hauptstr. 60-64. Bis 3. Oktober. Öffnungszeiten: Di., Mi., Fr. 14-18 Uhr, Do. 14-20 Uhr, Sa., So. 11-18 Uhr.

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