Wie ein feines Gespinst überziehen Linien, Striche und Kürzel die Bildflächen mit einer filigranen Struktur, breiten sich vor den hellen und dunklen Bildgründen wie ein engmaschiges Gewebe aus und erzeugen die Wirkung eines pulsierenden Organismus. Mit diesen kalligraphisch anmutenden „white writings“ (Schriften in Weiß) feierte der Maler Mark Tobey 1944 in New York seinen internationalen Durchbruch als bedeutender Wegbereiter des Abstrakten Expressionismus – jener neuen Stilrichtung, welche die US-amerikanische Malerei nach dem Zweiten Weltkrieg entscheidend prägte.
Im Kunstmuseum Singen begegnen dem Betrachter zahlreiche Arbeiten aus dieser berühmten Werkserie: die Ausstellung würdigt das Schaffen des 1890 in Centerville, Wisconsin, geborenen und 1976 in Basel gestorbenen Malers Mark Tobey mit einer eindrucksvollen Präsentation von rund 60 Exponaten aus Privatsammlungen, hauptsächlich aus der Stiftung Karin und Uwe Hollweg in Bremen.
Ausgangspunkt der Werkschau bildete das jüngst erschienene Buch „Mein Leben mit Mark“, in dem der Schriftsteller Arnold Stadler dem Leben und Wirken des Künstlers, den er seit Studententagen bewundert, nachspürt. Stadler zeichnet auch für die konzentrierte Auswahl der Werke verantwortlich, die den Bogen von den frühen, teils noch figurativen Arbeiten um 1930 über die reife Ausprägung der Abstraktion bis hin zu den späten Bildern der 70er Jahre spannt.

Tobey verarbeitete in seinen gestisch bewegten, von vibrierender Dynamik und energischer Rhythmik durchströmten Linien- und Farbkompositionen unterschiedlichste Einflüsse fernöstlicher, amerikanischer und europäischer Kunst sowie Religionen und Philosophien zu neuartigen Bildlösungen, die kein festes Zentrum mehr kennen, sondern vielmehr das Fließende, Veränderliche und Unendliche betonen.
„We are all waves oft the same sea“ (deutsch: „Wir sind alle Wellen in demselben Meer“), erklärte Tobey den ganzheitlichen, intellektuell-metaphysischen Ansatz seiner vielschichtigen Malerei. Und so vermag der Betrachter einzutauchen in netzartige All-over-Strukturen, in der sich alles aufzulösen scheint, in den Raum ausdehnt und transformiert. Die Bilder animieren das Auge zu einem inneren, meditativen Wahrnehmungsprozess, laden ein zur Kontemplation und entwickeln einen starken spirituellen Gehalt.

„Ich bin auf der Suche nach einer vereinten Welt in meinem Werk und verwende einen beweglichen Wirbel, um sie zu entwickeln“, erklärte Tobey seine Intention. Bildtitel wie „Written Stone“, „Red Trails“, “Flight“ oder „New York“ machen deutlich, dass er inhaltlich um die Themen Natur und Mensch, Gesellschaft und Zivilisation kreiste.
Mit seinen intensiv formauflösenden Bildern stand Mark Tobey an der Spitze der amerikanischen Avantgarde in der Nachkriegszeit. Die sinnliche Transparenz, spirituelle Transzendenz und kontemplative Aura unterscheiden seine Arbeiten, die er als ein „inneres Betrachten“ beschrieb, jedoch von der spontan eruptiven Ausdrucksgebärde des action painting seiner Weggefährten und bezeugen Tobeys eigenständige Position innerhalb des weiten Aktionsfeldes des Abstrakten Expressionismus.
„All seinen Bildern liegt eine Entdeckung, manchmal auch eine Erfindung zugrunde, dass wir nicht alleine sind auf der Welt. All seine Straßen und Linien, Wege und Verbindungslinien, Tag- und Nachthimmel, der Kosmos des Sichtbaren, der in das Unsichtbare übergeht, das ist Tobey für mich. (…) Eigentlich war Marks Reise eine Reise nach innen“, schildert Arnold Stadler seine Faszination für die sinnlich-expressiven Bildwelten des Künstlers, von der die Ausstellung im Singener Kunstmuseum sowie die parallel stattfindende Werkschau in der Galerie Vayhinger erzählen.
Mark Tobey. Arnold Stadler unterwegs in Marks Welt: Bis 19. Juni im Kunstmuseum Singen. Öffnungszeiten: Di.-Fr. 14-18, Sa.-So. 11-17 Uhr. Weitere Informationen: www.kunstmuseum-singen.de