„Nichts spielt im Leben eine solche Rolle wie das Auge und der Blick“, schrieb der Augenarzt Siegfried Seligmann 1910 und würde seine Einschätzung heute wohl bestätigt finden. Wie ein Schleier betont auch ein Mund-Nasen-Schutz zwangsläufig die Augenpartie, die ohnehin oft ein kommunikatives Eigenleben führt.

„Was jemand mit Worten sagt, wird häufig weniger genau betrachtet als die nonverbale Kommunikation – besonders, wenn man eine Person noch nicht kennt“, sagt die an der Kölner Hochschule Fresenius lehrende Wirtschaftspsychologin Wera Aretz. Wie wir andere anschauen, kann eine riesige Gefühlspalette vom Flehen um Aufmerksamkeit bis hin zur Verachtung ausdrücken.

Der erste Eindruck zählt

„Das Spannende daran ist, dass innerhalb des Bruchteils einer Sekunde ein sehr differenziertes Urteil gefällt wird über eine Person, obwohl der Alltagsmensch gar nicht so genau sagen kann, warum er jetzt das Gefühl hat: Das ist ein dominanter, intelligenter oder was auch immer für ein Mensch“, sagt Aretz und betont, dass wir „im Sinne der selektiven Wahrnehmung“ dazu neigten, an diesem ersten Eindruck festzuhalten.

Schon mit etwa vier Monaten lernen wir, auf die Augen in einem Gesicht zu achten – von da an lässt uns die Faszination unseres einzigen kommunikativen Sinnesorgans nicht mehr los. „Das Ohr ist stumm, der Mund ist taub, aber das Auge vernimmt und spricht“, schrieb Goethe in einer ersten Fassung seiner Betrachtung „Über das Auge“: „In ihm spiegelt sich von außen die Welt, von innen der Mensch.“

Augen wie ein Raubtier: die Medusa in einer Darstellung von Carlos Schwabe aus dem Jahr 1890.
Augen wie ein Raubtier: die Medusa in einer Darstellung von Carlos Schwabe aus dem Jahr 1890. | Bild: Wikipedia

Plinius der Ältere hatte das Auge schon im ersten Jahrhundert in seiner „Naturgeschichte“ als „Fenster der Seele“ bezeichnet. Auch wenn wir längst wissen, dass die unvergleichliche Wirkung unseres Sehorgans genau genommen erst durch kleine Bewegungen der Brauen, der Lider und benachbarter Muskeln zustande kommt – bis heute empfinden wir die Augen als eine Art ungeschützten Intimbereich. Sie sind unser wunder Punkt und unsere zwischenmenschliche Andockstelle.

In der Begegnung zweier Augenpaare können wir von der Liebe auf den ersten Blick erwischt werden oder uns durchschaut fühlen. Wer sich überhaupt auf einen Blickkontakt mit jemandem einlässt, anstatt gleich durch ihn hindurchzuschauen, erweist dem anderen damit schon etwas Respekt – und geht eine Art flüchtiger, optischer Fernbeziehung ein.

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„Der Bettler, dem es gelingt, erst einmal den Blick des Passanten einzufangen, hat schon halb gewonnen“, beschrieb der Wissenschaftsautor Dieter E. Zimmer diese Wirkung einer Blickberührung.

Wie lange und wie oft man sich anschauen sollte, wird in jeder Situation und jedem Kulturkreis durch unausgesprochene Konventionen festgelegt. Wer seinem Gegenüber seltener, aber dafür länger in die Augen schaut, kommt bei uns besser an als jemand, der sich immer wieder hektisch zu- und abwendet oder uns überhaupt nicht in die Augen schauen kann.

Wenn ein Blick zur Bedrohung wird

Ein unverwandter Blick wird nicht nur bei Hunden oder Vögeln als Drohstarren eingesetzt. Auch durchsetzungsfreudige Menschen versuchen oft, andere mit einem länger ausgehaltenen Anschauen zu dominieren. Der österreichische Scientology-Aussteiger Wilfried Handl berichtete, dass in der Organisation trainiert wurde, wie man andere unter Druck setzen kann, indem man zwei Stunden lang jemandem in die Augen schauen musste.

Auf die Spitze getrieben hat solche unmittelbaren Konfrontationen die New Yorker Performance-Künstlerin Marina Abramovic mit ihrer Aktion „The Artist Is Present“ im Frühjahr 2010. 75 Tage lang saß Abramovic während der gesamten Öffnungszeit ohne Unterbrechung fast bewegungslos mitten im Atrium des Museum Of Modern Art auf einem Stuhl. Auf einem zweiten Stuhl gegenüber konnten Besucher Platz nehmen – und sich von ihr ununterbrochen anschauen lassen, was viele zum Weinen brachte.

Marina Abramovic (links) bei der Performance „The Artist Is Present“ im März 2010 im Museum Of Modern Art New York.
Marina Abramovic (links) bei der Performance „The Artist Is Present“ im März 2010 im Museum Of Modern Art New York. | Bild: Marco Anelli/Courtesy of Marina Abramovic/dpa

Das Verhüllen der Augen bei Hinrichtungen wurde nicht als humanitäre Geste eingeführt, sondern aus Angst vor dem Blick des zum Tode Verurteilten. Der Brauch, einem Toten sofort die Augen zu schließen, geht auf ähnliche Befürchtungen zurück.

In vielen Ländern gibt es heute noch den Glauben an den bösen Blick – eine Art telepathische Kraft, die einen Schadenszauber bewirkt, den es etwa mit aufgemalten Augen, dem Tragen eines Schleiers oder auch der obszön zur Feige geballten Faust abzuwehren gilt.

Was Männer dürfen und Frauen nicht

Besondere Verhaltensregeln gelten in traditionell geprägten Gesellschaften für Blickkontakte zwischen Männern und Frauen. In ihrem Roman „Ich wollte Hosen“ beschreibt Lara Cordella, wie Mädchen in sizilianischen Dörfern der Nachkriegszeit ungeniert angegafft wurden, selbst aber den Blick auf den Boden richten mussten, wenn sie als anständig gelten wollten – die Blickhoheit lag bei den Männern.

Schaut eine Frau einen Mann direkt an, wird das in vielen Ländern heute noch als sexuelle Einladung verstanden. Umgekehrt leiden Frauen auch in modernen Gesellschaften regelmäßig darunter, im Blick eines Mannes zu einem attraktiven Objekt reduziert zu werden, dessen optischer Wert mitunter unverschämt taxiert wird. Vom verklemmten Gymnasiasten, der seine schöne Mitschülerin zwanghaft anglotzt, anstatt sie anzusprechen, bis zum Spießrutenlauf an einer Baustelle gehören Männerblicke zu den spezifisch weiblichen Unannehmlichkeiten.

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Spätestens wenn eine Frau viel Haut oder ein paar Gramm Nylon an sich zeigt, schaltet manches Männerhirn komplett auf Testosteronbetrieb um. Inzwischen sehen sich auch viele Frauen gern attraktive Vertreter des anderen Geschlechts an, nur schaffen sie das unauffälliger als die meisten Männer, weil sie nicht jedes Mal den ganzen Kopf drehen, wenn sie irgendwohin schauen.

Wie man es genießen kann, sich vor dem Blick eines anderen zu produzieren, hat Kurt Tucholsky 1928 in seinem Text „Frauen sind eitel, Männer? Nie--!“ beschrieben: Ein Mann im Hotelzimmer bemerkt, dass ihn eine Dame durch den Vorhang des gegenüberliegenden Fensters ungeniert beobachtet.

Nach dem ersten Schreck beginnt er, sich genüsslich seiner Körperpflege zu widmen – bis er nach einer halben Stunde merkt, dass er seinen Balztanz vor einer Attrappe vollführt hat – „ein Holzgestell mit einem Mantel darüber, eine Zimmerpalme und ein dunkler Stuhl“.

Wenn Blicke sich begegnen

Zum Glück gibt es ja nicht nur die einseitige Betrachtung eines anderen, sondern auch die angenehmen Varianten echter Kommunikation mit den Augen: die kurze, verschwörerische Blickbegegnung zweier Fremder, die sich einig sind, ohne das auffällig zu zeigen, oder das liebevolle Zuzwinkern.

Nicht zu vergessen das bezaubernde Liebäugeln auf Gegenseitigkeit, das einvernehmliche Spiel der Augenpaare, wenn sich wie zufällig zwei Blicke kreuzen, sich wieder finden und immer länger werden – stumme Flirts, bei denen nur scheinbar noch gar nichts passiert, während man einander schöne Augen macht und sich längst verguckt hat. Einer Theorie im alten Griechenland zufolge brennt es im Auge des Menschen – und wer spielt nicht manchmal gern mit dem Feuer?